Der elfte Schritt

Durch Gebet und Betrachtung suche ich den Kontakt mit GOTT so wie, ich IHN verstehe zu vertiefen. Ich bitte IHN, mir seinen Willen kundzutun und um die Kraft, ihn auszuführen

Für mich ist dieser Schritt der schwerste Teil des A.A.-Programmes. Dieser Aufforderung zum täglichen Gebet und zur Meditation kann ich nur dann nachkommen, wenn ich spüre, dass sich ein gewisser Kontakt einstellt. Ein Kontakt, der mir sagt, dass ich keine Phrasen gegen die leere Wand spreche. Ein Kontakt, der meinen Glauben bestärkt, dass mein Leben und alles Geschehen um mich nach dem Willen Gottes abläuft.

Und diesen Kontakt kann ich leider nicht selbst herstellen. Manchmal vergehen Tage, Wochen oder sogar Monate, bis ich wieder dran bin. Und in dieser Zeit entstehen Zweifel.

Ich weiß, dass ich mich vor diesen Zweifeln in Acht nehmen muss. Meine Gedanken laufen dann ungewollt in eine Richtung, die mich von Gott entfernt, statt näher zu bringen.

Ich zerbreche mir den Kopf, weshalb in diesem Augenblick überall in der Welt noch Kinder verhungern. Ich frage, warum immer wieder Kriege mit ihren scheußlichen Grausamkeiten über unschuldige Menschen hinwegfegen, Ich ertappe mich bei der Sammlung von Argumenten, die alle g e g e n Gott sprechen.

Ich suche das Wissen um Gott 

Mein "Nicht-Verstehen-Können" treibt mich dann unweigerlich auf die Suche nach einem Beweis der Existenz Gottes. Ich versuche, IHN zu lokalisieren. Ich versuche mir seine Gestalt vorzustellen und ich muss immer wieder einsehen, dass mein Geist hier nicht mehr mitkommt.

An diesem Punkt schäme ich mich oft meiner Gedanken und fühle mich so richtig hilflos.

In einer solchen Situation komme ich mir ganz klein und hässlich vor. Ich sehe meine Grenzen und ich gestehe mir ein, dass diese Grenzen in Wirklichkeit viel näher liegen, als ich wahrhaben will.

Das Nichtverstehen meines Geistes beginnt ja schon in der höheren Mathematik, wo ich genauso hilflos vor einer Integralrechnung stehe, die mir nichts sagt, aber für den Experten ein kleiner Fisch ist. Ich höre mit Unverständnis eine Abhandlung über Kernspaltungsprozesse in der Atomphysik und nehme andererseits die Explosion einer Wasserstoffbombe im Südpazifik als Randerscheinung hin. Warum sollte die Bombe nicht explodieren? Schließlich haben das Menschen mit klügeren Köpfen alles genau berechnet,

Ich sehe ein, dass ich nichts weiß und will trotzdem alles wissen. Ich suche das Wissen um Gott und dann stehe ich vor dem Werk eines großen Theologen genau so, wie vor der komplizierten Rechnung aus der höheren Mathematik mit den unverständlichen Integralen und Unbekannten.

Komischerweise gelingt es mir aber, mit den Unbekannten X und Y der Mathematik in meinem Nichtverstehen innerlich leichter fertig zu werden, als mit jener Unbekannten, die sich als "Größer ab wir selbst" vor meinen Augen versteckt.

Ich kann nicht sehen und vielleicht ist das ein Zeichen meiner Krankheit  - die alkoholische Blindheit.

Wer krank ist soll zum Arzt gehen und ich scheue den Weg nicht, etwas gegen meine Blindheit zu tun. Ich besuchte viele Meetings, ich sprach mit vielen Ärzten und Pfarrern und ich fand einen Weg. Einen einfachen Weg.

Meine Freunde warnten mich davor Gott in die Höhe zu projizieren, wo ihn kein Mensch erreichen konnte und gleichzeitig seine Gestalt neben mir erkennen zu wollen. Sie warnten davor, mich selbst zu überschätzen. Der Weg, der zu Gott führt, ist der Weg der DEMUT.

"K I S S" sagte mein Freund:

 Keep it stupid simple

Halte es so einfach wie möglich Das war die Lösung. Ich dachte an mein Kind. Mein Junge ist 7 Jahre und hat keine Schwierigkeiten, den Kontakt mit Gott zu vertiefen. Jeden Abend betet er vor dem Einschlafen und seine Gebete sind es, die mir zu denken geben. Da heißt es: "Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Augen zu, Vater lass die Augen Dein, über meinem Bettchen sein. Alle, die mir sind verwandt, Gott, lass ruhn in Deiner Hand, aber meine Lehrerin nicht, denn die war heute so gemein und ungerecht zu mir - Amen"

oder

"Vater unser, der Du bist im Himmel, bitte mach, dass ich morgen meinen Freund verhaue und Sieger bleib und mach, dass die Lehrerin nicht merkt, dass ich meine Schulaufgaben nicht gemacht habe, im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes - Amen"

Dann kriegt der Bengel seinen Vater um den Hals, gibt ihm einen "GUTENACHT-KUSS", dreht sich um und ist bald eingeschlafen. Friedlich und fest, wie ein Murmeltier.

Er braucht Gott, um friedlich schlafen zu können.

Er braucht Gott, um die vielen kleinen und großen Sorgen seines jungen Herzens abladen zu können.

Und er glaubt ganz fest, dass Gott ihm morgen zur Seite steht, wenn er seinen Freund verhaut.

Das gibt ihm Mut, das gibt ihm Kraft, mit seinem Leben fertig zu werden.

Oft beneide ich ihn um seine Unkompliziertheit.

"K I S S"

So gesehen wird es mir leichter mit Gott in Verbindung zu treten. Oft gelingt es mir dann, auch meine Sorgen und Probleme bei ihm abzuladen und ich fühle mich nach einem solchen Kontakt befreit und gestärkt. Ich erkenne, dass ich ihn brauche, wenn ich nicht mehr weiter weiß und ich verstehe die Richtigkeit des Wortes von VOLTAIRE:

Wenn es Gott nicht gäbe, müssten wir ihn erfinden

Ich brauche diese höhere Kraft, um ihr Verantwortung zu übertragen, die ich nicht auf mich nehmen kann, weil sie über meine Kräfte geht,

Ich brauche jene Kraft, die stärker ist als ich selbst, um meine Sorgen abzuladen und ich brauche sie, um mit ihr im Gebet über meine Probleme sprechen zu können. Besonders wenn ich allein bin und keinen verstehenden Menschen mehr um mich haben.

Wir Menschen brauchen einen VATER, der uns Vorbild und Wegweiser ist und der immer für uns da ist.

Ob wir diese höhere Kraft "G 0 T T" nennen, ist nach meiner persönlichen Meinung von sekundärer Bedeutung.

Warum soll ich es nicht tun, wenn es alle tun?

Will ich schon wieder etwas besonderes sein?

Ich glaube, dass ich auf meiner Suche nach Gott nicht allein bin. Wohl jeder denkende Mensch hat Zeiten, in denen er in seiner Verzweiflung an Gott zweifelt.

Ich habe selbst von Pfarrern gehört, dass auch sie in einer ständigen Auseinandersetzung mit Gott leben und ähnlichen inneren Kämpfen ausgesetzt sind, Einer sagte mir einmal, es geht ja gar nicht um Gott, es geht um die Menschen.

Die Menschen haben sich eine Religion geschaffen, als es noch kein Strafgesetzbuch und kein BGB gab. Dieses Gesetz der 10 Gebote regelte die menschlichen Beziehungen untereinander und da alle Menschen gleich sind, wurde Gott als imaginäre Kraft zum Richter erhoben.

Nur das Beispiel überzeugt

Nachdem es zu allen Zeiten Menschen gab und gibt, die außerhalb des Gesetzes leben, rauben, morden, betrügen, vergewaltigen und falsches Zeugnis reden, muss es auf der anderen Seite auch Menschen geben, die Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Sauberkeit vorleben.

 

Denn nur das Beispiel überzeugt! 

So überzeugte Jesus die Menschen durch seine unbegrenzte Nächstenliebe. So überzeugte der Pfarrer seine Gemeinde durch seine unermüdliche Fürsorgebereitschaft und so überzeugte der Nüchterne den Nassen.

So überzeugt ein Kranker, der geduldig seine schweren Leiden erträgt, jenen Jammerlappen, der sich selbst bemitleidet und so überzeugt der Vorgesetzte im Beruf durch seine eigene beispielhafte Lebenshaltung.

So überzeugt ein Mensch, der sich für andere Menschen ans Kreuz nageln ließ und auch dieser Mensch hatte Zweifel, als er rief:

 "Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?!"

Es geht also um das Beispiel, denn nur aus dem Beispiel schöpfen einige hunderttausend anonyme Alkoholiker die Kraft für die Nüchternheit der nächsten 24 Stunden. Diese Kraft muss ihren Ursprung im Glauben an eine Kraft, die größer ist als wir selbst, haben und für mich gilt es, diesen Glauben zu festigen.

Hier kann ich meine Nüchternheit auf hängen.

Spiritum contra Spiritus 

Hier kann ich meine Seele stärken und meinen Geist auftanken. Doch dafür gibt es keinen Stundenplan.

Ich kann nicht täglich mit meinem Auto zur Tankstelle fahren um 40 Liter Benzin nachfüllen zu lassen. Voraussetzung wäre, dass ich diese Menge zuvor verfahren habe.

Ich kann auch nicht täglich oder zu bestimmten Stunden mit Gott in Kontakt kommen. Ich muss warten, bis ich leer bin, bis ich aufnahmefähig bin, bis ich Durst habe.

Hier bewahrheitet sich das Wort:

Ich muss Durst haben, um in Kontakt zu kommen.

Ich respektiere den regelmäßigen Kirchgänger (schon aus dem einfachen Grund, weil ich früher auch regelmäßig ins Wirtshaus ging).

Ich respektiere die Gebetsrufer des Islams, die pünktlich zur festgesetzten Stunde ihr Signal vom Turm der Moschee verkünden.

Ich respektiere das Läuten der Kirchenglocken zu bestimmten Zeiten.

- - - aber ich akzeptiere es für mich nicht.

Ich akzeptiere es auch nicht, wenn ich zu Beginn eines Meetings vom "Chairman" aufgefordert werde, zu einer Schweigeminute aufzustehen.

Ich akzeptiere es auch nicht, wenn jener "Chairman" am Schluss eine ähnliche gymnastische Übung mit dem gemeinsamen Sprechen des Gelassenheitsspruches durchführen lässt.

Um zum, Wesentlichen zu kommen sind meines Erachtens solche Turnübungen, die ja anderenorts üblich sind und von daher bei vielen unliebsame Erinnerungen wachrufen, wirklich nicht nötig.

Ich muss allein sein, um Kontakt zu bekommen. Ich kann leider keine frornmen Lieder singen und will es auch gar nicht.

Ich muss mich Gott, so wie ich IHN verstehe, freiwillig nähern - und nicht nach dem Dirigentenstab des Chorleiters.

Unsere Begegnung ist unverhofft.

Vielleicht, wenn ich bei einer Wanderung an einer verlassenen Kapelle vorbeikomme, oder wenn ich allein durch den Wald streife.

Der Gott, den ich meine, ist überall. Nicht nur in den Kirchen und auf den Friedhöfen.

Ich begegne ihm im täglichen Leben, mitten unter uns.

Im Straßenverkehr, im Beruf, in den Menschen, die um mich sind.

Ich begegne ihm in der Natur, in den Pflanzen, in den Tieren. Und besonders in den Kindern.

Ich muss nicht unbedingt mit gefalteten Händen bestimmte Sprüche auswendig herunterleiern.

Oft meine ich, ich bin ihm nah, wenn ich an gar nichts denke, abschalte und eine riesige wohltuende Leere der Unendlichkeit in und um mir aufgeht.

Das kann man nicht beschreiben.

Das kann man nur erleben, doch dieses Erlebnis kann man nicht zu einer festgesetzten Stunde erzwingen.  

Danken statt Bitten 

Ich muss leider gestehen, dass ich es schon bei der Beerdigung nahestehender Menschen auf dem Friedhof erlebt habe, dass meine Gedanken wenig pietätvoll auseinander liefen. Dass ich beim Gebet des Pfarrers ans Mittagessen dachte. Ich weiß nicht, woher diese dummen Gedanken kommen. Aber das Recht auf Dummheit gehört zur freien Entfaltung der Persönlichkeit.

Früher meinte ich, dass Beten mit Bitten gleichbedeutend ist. Heute weiß ich, dass man unter einem Gebet jede Zwiesprache mit einer höheren Kraft versteht.

Und ich kann nur noch Danken.

Bitten heißt für mich, dass ich meinen Willen durchsetzen möchte, dass ich meine Wünsche erfüllt sehen will.

Das passt nicht zum dritten Schritt.

Wenn ich mein Leben einer höheren Kraft anvertraue, dann läuft es auch so, wie es bestimmt ist.

Ich muss nur lernen zu hören, damit ich Seinen Weisungen folgen kann.

Ich kann nur immer wieder DANKE sagen, dass das Leben bisher trotz dieser alkoholischen Verirrung so gut abgelaufen ist.

Das DANKE sagen. fällt mir leichter als das Bitten. Und wenn ein Tag besonders mies war, dann fällt das DANKE mal eben unter den Tisch. Die Sonne scheint schon wieder - und dann kann ich alles nachholen. Vor allem das DANKE für meine anhaltende Nüchternheit.

Meine A.A.-Freunde hatten recht, als sie mir vor Jahren sagten: " Du musst nur das erste Glas meiden und auf Gott vertrauen, dann geht alles andere von selbst !" 

Auf Gott vertrauen heißt aber nicht, dass man die Hände in den Schoß legen kann, um zu warten, was passiert. Hier muss man sein Ohr schulen, um die richtige Antenne für solche Eingebungen zu bekommen, die aus dem Schlamassel herausführen. 

Kein Problem wird gelöst, wenn wir träge darauf warten, dass Gott allein sich darum kümmert. (Martin Luther King)

Ich musste zwei Jahre warten, bis ich mich auf die richtige Wellenlänge einstellen konnte.

Einmal fällt der Groschen

Heute glaube ich, dass das damalige "Klick" mit meiner Nüchternheit zusammen fiel. Vorher war ich nur trocken. Vorher war ich nicht zufrieden, sondern achtete verkrampft darauf keinen Alkohol zu trinken. In dieser Verkrampfung kann man nicht auf die Dauer nüchtern bleiben. Man fühlt sich ewig leer und unausgefüllt. Ich spüre in der ganzen Zeit ein Loch in mir, dass wohl verblieb, als man mir die Flasche wegstellte. Dieses Loch gilt es auszufüllen und das kann ich nicht, wenn ich pausenlos nur mit A.A. über A.A. spreche

Meine Freude ist nicht gerade überschäumend, wenn sich am Wochenende ein diesbezüglich im weiten Umkreis bekannter A.A.-Freund ansagt. Stundenlang gibt es kein anderes Thema als Klatsch über "Anonyme" Alkoholiker zwischen der Nordsee und den bayerischen Alpen. Selbst beim Mittagessen fällt ihm zwischen zwei Bissen ein A.A.-Freund aus dem Gesicht., Ich glaube, der arme Mensch weiß gar nicht, was er isst.

Und dann bildet man sich noch ein, ein geistig hochstehendes Gespräch zu führen.

Spiritum contra Spiritus? - NEIN! A.A.-BESOFFEN!

Man kann alles übertreiben und ich weiß, dass ich selbst dazu neige.

Anonyme Alkoholiker sind keine Sekte

Die Gefahr der Übertreibung kommt auch in der Ausübung des elften Schrittes auf uns zu. Wir übertreiben unsere Verbundenheit mit Gott durch gemeinsame Gebete und verfallen ins Ritual. Damit werden wir zur Sekte und haben ohne es zu merken die Türe hinter uns zugemacht, Draußen steht der leidende Alkoholiker -und er bleibt draußen.

Ich meine, das schönste Geschenk Gottes ist die menschliche Freiheit. Wir sind frei in unserer menschlichen Entscheidung und sollten das auch für unsere Mitmenschen respektieren. Es bleibt jedem selbst überlassen, inwieweit er sich des Gebetes bedienen will, um s e i n e m Gott näher zu kommen. Auf das "Näherkommen" überhaupt kommt es an.

Dazu sollten wir ihn ermutigen. "Tritt doch einmal etwas näher heran" mahnt dieses Bild. Auch wenn das Kreuz leer ist. Auch wenn die Fesseln gesprengt sind.

Ich meine, dass ich erst dann etwas näher herantreten könnte, nachdem ich die Fesseln der Alkoholsucht sprengen konnte. Als Nasser" fehlte mir jede Beziehung. Da konnte der vom Kreuz nicht helfen. Da hatte ich einen anderen "Tröster".

Ohne Heiligenschein ....... aber dafür mit drei Sternen.

Heute erst werde ich mir jeden Tag meiner Freiheit erst richtig bewusst. Ein Leben ohne trinken zu müssen. Ein Leben, das ich keinem Menschen und keiner Droge mehr unterordnen muss, denn es gibt nur eine Kraft über mir, Gott, so wie ich IHN verstehe.

,Herr, ich bitte Dich, mir Deinen Willen kund zu tun und um die Kraft, ihn auszuführen."

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