Der zehnte Schritt

Ich mache laufend Gewissensinventur und wenn ich unrecht habe, gebe ich es sofort zu.

Die vorangehenden neun Schritte helfen mir bei der Bewältigung meiner Vergangenheit.  

Mit den folgenden Schritten versuche ich den Ablauf meines t ä g l i c h e n Lebens so zu regeln, damit ich in keine neuen Schwierigkeiten komme. Sie sind mein Leitfaden für 24 Stunden und festigen meine Nüchternheit. Mit ihrer Hilfe versuche ich mein Gefühlsleben im Gleichgewicht zu halten und alle Gefahren, die meine Nüchternheit bedrohen, zu erkennen.

Diese laufende Gewissensinventur bezieht sich also nicht mehr auf meine Vergangenheit.

Das war eine einmalige Sache, die ich im vierten Schritt erledigen konnte, um dann ein für alle mal zu einem Schlussstrich zu kommen. Nachdem ich mich entschuldigt habe, kann ich endlich sagen

"Das GESTERN ist vorbei!"

Im zehnten Schritt arbeite ich an meiner täglichen Buchführung. Hier gilt nur das HEUTE, mit all seinen Versuchungen und Irrtümern, denen ich widerstehen muss, oder die ich zu korrigieren habe. Es fällt mir nicht immer leicht, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Oft weiß ich nicht, ob ich hier und da meinen Trieben zu viel Spielraum lasse. Manchmal sehe ich keine Grenze.

Springbrunnen der Gefühle

Andererseits erreiche ich oft ein gutes Ziel nicht, weil ich mir durch Angst und Hemmungen selbst den Weg verbaue. 

Ein Freund schilderte diese ständige Selbstkontrolle der menschlichen Triebe und Charaktereigenschaften einmal sehr eindrucksvoll.

Er verglich all die ungezügelten Triebe und Regungen mit den Fontänen eines Wasserspieles, wie man es gelegentlich bei Ausstellungen oder in einem Kurpark sieht.

Als Regisseur übernehme ich die Aufgabe, ein lebendiges und spritziges Spiel dieser Vielzahl kombinierter wasserspeiender Düsen virtuos zu bedienen.

Jede Düse hat ihren Namen.

Eine heißt Hoffart, die andere Überheblichkeit. Beide müssen ständig gedrosselt werden.

Dort steht die Demut neben dem Glauben. Hier kann man der Aktion freien Lauf lassen.

Andere Strahlen bedeuten:

Nächstenliebe, Zurückhaltung, Geiz, Egoismus, Neid, Reue, Hochmut, Unmäßigkeit, Selbstbeherrschung, Sex, Eitelkeit, Mut, Ehrlichkeit, Feigheit, Lüge, Selbstmitleid, Zorn, Trägheit, Arroganz und Gelassenheit.

Ein abwechslungsreiches Register menschlicher Stärken und Schwächen. Viele dieser Strahlen springen lustig in den Himmel und man hat alle Hände voll zu tun, um die Harmonie des optischen Eindruckes zu erhalten.

Dort steigt zum Beispiel die Eitelkeit in die Höhe und muss gedämpft werden.

Da tröpfelt der Mut mühselig und droht zu versiegen.

Bald sprudelt die Unmäßigkeit unkontrolliert zwischen Egoismus und Neid und während man hier den Geiz mit einem schnellen Daumendruck abwürgt, spritzt dort hinten die Überheblichkeit quer durch die Sinfonie unserer Gefühle.

So hat man den ganzen Tag zu tun, den einen Trieb zu dämpfen und den andern aufzuwecken.  Oft findet man nicht die richtige Einstellung und manchmal vermischt sich das eine mit dem anderen.

So wird Gelassenheit zur Faulheit und Reue zum Selbstmitleid. Es ist gar nicht so einfach, dieses Orchester hochtrabender Emotionen in den Griff zu bekommen.

Man ist den ganzen Tag damit beschäftigt und hat keine Hand mehr frei, um zum Glas zu greifen.

24 Stunden bewusst leben

Was habe ich in diesen 24 Stunden doch alles zu beachten?

Immer wieder beobachte ich an mir kleine oder große Unstimmigkeiten, die ich korrigieren sollte, um keine neuen Probleme aufkommen zu lassen.

Das beginnt bereits beim Aufstehen. Manchmal steckt mir irgend eine Unlust in den Knochen und ich verschiebe den Entschluss aufzustehen von Minute zu Minute. Ich weiß, dass ich deshalb auch nicht munterer werde und die Zeit bis zum Arbeitsbeginn irgendwie wieder einholen muss. Aber es wird schon gehen. Dabei verfällt man in die Versuchung sein Äußeres zu vernachlässigen. Zähneputzen wird klein geschrieben und schon rast man wie ein Verrückter zur Arbeit, denn irgendwo muss man die Zeit ja aufholen. Sollte man es doch nicht schaffen, macht man sich Gewissensbisse, ob es auffällt, dass man zu spät kommt. Man überlegt sich bereits eine Ausrede und so beginnt der Tag mit der ersten Lüge.

Zum Frühstück war die Zeit natürlich auch zu knapp, aber schließlich reichte es gerade noch zum Kaffee und der Zigarette. Die brauchte man, denn wer setzt sich schon so nervös ans Steuer.

Am Arbeitsplatz galt es nun, das Prestige wieder herzustellen. Man wollte ja schon immer etwas besseres sein, als die anderen und zerbrach sich den Kopf, wie man diese gehobene Stellung mit einem Minimum an geistigem und körperlichern Verschleiß erreichen konnte. Am besten, man spricht gleich mal beim Chef vor und erzählt, wie man sich für den Beruf einsetzt und dass die anderen Kollegen so umständlich arbeiten.

Wer angibt hat mehr vom Leben natürlich tut man das in aller Bescheidenheit.

Man weiß schon, welche Masche zieht, denn letzten Endes ist man die Schauspielerei von früher gewohnt. Jetzt, wo man nüchtern alles überblickt, kann man ja die anderen für seine Zwecke ausspielen, denn die Tage, wo die Kollegen für uns noch mitarbeiten mussten, sind vorbei.

Bei A.A. hat man gelernt, dass man die Vergangenheit ruhen lassen muss, also soll mir keiner mehr damit kommen, was früher war und wie er mich gedeckt hat. Heute gilt mein Wort. Außerdem verbittet man sieh diese Vertraulichkeiten. Wo kämen wir denn da hin?

Die Arbeit ist doch ein harter Kampf ums Dasein, doch bei genauerer Betrachtung erschöpft man sich weniger an seiner eigentlichen produktiven Leistung, für die man ja bezahlt wird; sondern am Ausbau und der Behauptung seiner Stellung gegenüber den Mitarbeitern.

Kein Wunder, dass man am Nachmittag todmüde heim kommt,

Doch da wartet schon die Frau mit den neuesten Nachrichten und die Kinder freuen sich, nun endlich den Vater für sich zu haben.

Sicher hat man ganz dringend etwas anderes zu tun und setzt das Verständnis der ganzen Familie voraus. Da man nicht in Ruhe gelassen wird, verschafft man sich mit einigen lauten Worten Respekt und trauert gleichzeitig unbewusst der leider bewältigten Vergangenheit nach, wo man sich nach getaner Arbeit bei einem Bier in irgend einer Kneipe entspannen konnte, um umzuschalten, Was ist das doch für ein Leben!

Da man sich zu Hause nichts mehr zu sagen hat, denn dazu war ja jahrelang Zeit, sucht man nach einem guten Grund, sich abzusetzen. Man scheut keine lange Autofahrt zu einem Meeting in der Nachbarstadt, denn in der eigenen Gruppe ist gerade keins und schließlich muss man etwas für seine Nüchternheit tun. Außerdem braucht man wieder einmal die Bestätigung, was für ein Kerl man ist. Da man in der eigenen Gruppe schon zu bekannt ist, geht man als "Gast«' zur fremden Gruppe. Hier wird man endlich wieder angehört, darf vielleicht das Meeting leiten, denn überall in A.A. ist man froh, wenn ein neuer Sprecher auftaucht. So kann man wieder mal richtig eine Show abziehen, obwohl man nur alte abgedroschene Phrasen wiederholt, die man bei den Meetings der eigenen Gruppe x-mal auf ihre Wirkung erprobt hatte.

Vielleicht lernt man bei dieser Gelegenheit auch noch eine neue A.A.-Freundin kennen, bei der man sich dann gleich als Sponsor versucht.

Man hat ja so seine Erfahrungen.

Außerdem sollte man immer etwas tun, um sein Selbstbewusstsein zu heben und das geschieht zum Beispiel, indem man sich bei einer neuen Eroberung als Mann bestätigt.

Wenn man dann nach Hause fährt, denkt man vielleicht auch mal an die eigene Frau. Es ist doch eigenartig, dass sie überhaupt kein Verständnis hat, wenn man jeden Abend zum Meeting muss oder im "12. Schritt" arbeitet.

Schließlich bleibt noch das Wochenende. Nun hätte man ja mal Zeit, ganz für die Familie da zu sein, aber da kommt schon der erwartete Besuch lieber A.A.-Freunde und so redet man Stunde um Stunde nur über A.A.. Der Klatsch blüht und man tut wieder etwas für seine Selbstbestätigung. Außerdem ist es im verräucherten Wohnzimmer wesentlich gesünder als bei einem Waldspaziergang mit der Familie.

Man gießt den Kaffee literweise in sich hinein und ist stolz, dass man keinen Alkohol mehr trinkt.

Ich darf ja alles - nur nicht saufen! 

Dabei merke ich gar nicht, wie ich von einem Extrem ins andere falle und ein Problem los werde, um mir ein neues an den Hals zu hängen.

Es fällt mir verdammt schwer, mein Leben richtig einzuteilen.

Sicher - ich brauche A.A.;

aber ich brauch auch meinen Beruf, meine Familie, meine Gesundheit, mein Hobby, meine Entspannung und meine geistige Erbauung, die ich außerhalb A.A. suchen sollte.

Das Wichtigste ist aber, dass auch meine Familie mich braucht, dass meine Arbeitskollegen von mir einen Beitrag  erwarten und dass ich meinen Egoismus zurückstelle.

Die Tatsache, Alkoholiker zu sein, verleiht mir keine Sonderstellung in der Gesellschaft.

Natürlich ist es recht schwer, wenn nicht gar unmöglich, allen gerecht zu werden.

Der Tag hat nun einmal nur 24 Stunden und oft wird die schönste Einteilung dadurch über den Haufen geschmissen, dass das Wetter nicht mitspielt, oder dass man seine Unlust, einen bestimmten Plan auszuführen, einfach nicht überwinden kann. Manchmal sind es auch andere Menschen, die glauben in mein Leben eingreifen zu müssen und mir die Zeit stehlen.

Mit all dem muss ich aber fertig werden.

Das ist das Leben.

Es lässt sich nicht nur von mir planen, sondern es stellt auch unberechenbare Forderungen an mich, mit denen ich fertig werden muss. Um bestehen zu können, muss ich mich bemühen, das Leben in jeder Situation zu meistern. Dabei versuche ich, den Gegebenheiten der Stunde gelassen gegenüber zu stehen.

Gelassenheit heißt innere Ruhe, nüchternes Abwägen der Situation, keine übereilte Entscheidung, die man hinterher bedauert.

Die meisten Dinge in unserem Leben bedürfen keiner sofortigen Entscheidung. Wir machen meist selbst alles nur so brandeilig. Vieles wäre besser, wenn wir manche Sache einmal überschlafen hätten. Oft haben sich dann die Dinge schon von selbst geregelt oder ein Problem hat seine überdimensionale Größe verloren.

So suche ich das Gespräch mit meinen Freunden zur geistigen Erbauung und nicht zum Ratschen und Tratschen. Sicher kann man nicht immer über ernste Themen sprechen und ich fühle es recht gut, wie mich manche witzige Blödelei auflockert und Freude in meine Gedanken bringt. Aber all das sollte ausgewogen verteilt sein und zwischen den Gesprächen darf man die Pausen der Besinnung, des Schweigens und des Zuhörens nicht vergessen.

Mein Ziel ist, bewusst zu leben.

Bewusst leben heißt aber, laufend Gewissensinventur zu machen, so wie es der 10. Schritt empfiehlt. Die zweite Forderung, nämlich getroffenes Unrecht sofort zuzugeben, ist damit unmittelbar verbunden.

Ich vergleiche mein tägliches Tun und Handeln mit einer Kette verknüpfter Entscheidungen. Nach allem, was mir an Gedanken in den Kopf kommt, steht ein "Ja" oder "Nein", um es abzulehnen oder auszuführen. Das heißt, zur logischen Entscheidung im JETZT gibt es nur zwei Möglichkeiten.

Da ich kein automatischer Rechner bin, der aus logischen Schaltungen und Verknüpfungen besteht, treffe ich sicher auch Fehlentscheidungen. Meist dauert es nicht lange, bis ich diese als solche erkenne. Jetzt stehe ich aber vor der großen Bewährung, diese Fehler auch sofort zuzugeben.

 Es ist eine meiner Schwächen, diese Fehler möglichst unbemerkt vertuschen zu wollen. Ich meine, ich vergebe mir etwas, wenn ich manchen verzapften Mist unumwunden eingestehe. Oft versuche ich das missglückte Ereignis mit einer weiteren "Notlüge" zu entschuldigen und dann dauert es nicht lange, bis ich mich durch an den Haaren herbeigezogenen Ausreden in ein unentwirrbares Lügennetz verstrickt habe. Erst in dieser Situation wird mir klar, dass es besser gewesen wäre, alles gleich zuzugeben, denn am Anfang wäre es noch ganz gut gegangen.

Hier muss ich noch viel an mir arbeiten.

Diese tägliche Inventur ist eine "Sofort-Kontrolle" meines Lebens und es liegt an mir, ob die Bilanz aus den roten Zahlen meiner alkoholischen Vergangenheit herauskommt.

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