DIE SIEBTE TRADITIONJede AA-Gruppe sollte sich selbst erhalten und von außen kommende Unterstützungen ablehnen. In unserer Trinkerzeit waren wir Almosen-Empfänger. Das Geld, das wir monatlich noch von unserem Arbeitgeber bekamen, hatten wir nicht immer verdient, weil wir aufgrund unserer Krankheit unstetig in unseren Leistungen waren. Viele von uns hatten Schulden. Manche ließen sich von dem zur Arbeit gehenden Partner aushalten. Wir waren oft so am Ende, daß wir nicht einmal als Gegenleistung die dringendsten Dinge im Haushalt erledigen konnten. Die Trunksucht hatte uns auch in finanzieller Hinsicht unmündig gemacht. Viele von uns waren als Erwachsene zu Taschengeld-Empfängern innerhalb der Familie geworden. Manchmal bettelten wir um kleine Geldbeträge, um uns den dringend nötigen Alkohol beschaffen zu können. Nüchtern werden ist ein Prozeß des Erwachsenwerdens auch in finanzieller Hinsicht. Es ist nicht Hochmut, wenn wir uns mit wachsendem Selbstwertgefühl nicht mehr aushalten lassen wollen. Diese Entwicklung des einzelnen auf die Gruppe übertragen, -das ist der Inhalt der Siebenten Tradition. Es ist eines erwachsenen, gesunden, vollwertigen Menschen unwürdig, sich aushalten zu lassen. Die Anonymen Alkoholiker wollen den sich selbst gestellten Auftrag als gleichwertige Partner in der Gesellschaft erfüllen; sie wollen zur Erfüllung dieses Auftrages nicht als Bittsteller an die Türen staatlicher, kirchlicher oder privater Organisationen klopfen. Das kompromißlose Beharren auf finanzieller Unabhängigkeit geht so weit, daß AA es auch ablehnt, Geldbußen anzunehmen, die von Gerichten gegenüber Alkohol-Verkehrssündern ausgesprochen werden. Das hat weniger mit Stolz als mit dem wiedererlangten Selbstwertgefühl des einzelnen und damit der AA-Gemeinschaft zu tun. Dieser innere, moralische Grund für die Ablehnung von außen kommender Spenden ist jedoch nicht der einzige für diese konsequente Grundhaltung bei AA. Es gibt auch ganz praktische Gründe für diese Siebente Tradition; Gründe, die das Funktionieren und das unabhängige Wohlergehen dieser Gemeinschaft im Auge haben. Dazu muß gesagt werden, daß diese Siebente Tradition das Ergebnis einer langen Diskussionsphase in unserer Gemeinschaft war. Nicht von Anfang an war die Haltung der AA-Gemeinschaft in dieser Frage so klar formuliert. Es gab wie bei jeder Auseinandersetzung zwei Extrem-Standpunkte. Die einen glaubten, mit viel Geld - gleich woher es komme - könne AA am ehesten möglichst vielen Alkoholikern helfen. Die anderen sprachen kollektiver Armut das Wort und meinten, AA brauche überhaupt kein Geld. Die Wahrheit und der schließlich gefundene Kompromiß liegen, wie oft beim Streit, in der Mitte. Zu der Erkenntnis, daß viel Geld zu viel Streit führt, hatte diese Diskussion schon in der Praxis geführt. Andererseits war man sich darüber im Klaren, daß niemand sich dieser Gemeinschaft angeschlossen hat, um immer wieder über die zweckmäßigste Verwendung irgendwelcher Zuwendungen zu debattieren. Außerdem spürten schon jene Pioniere aus der Anfangszeit der AA, daß selbst großherzig gespendetes Geld die Unabhängigkeit der Gemeinschaft gefährdete. In irgendeiner Form nämlich wollten und wollen Geldgeber über die Verwendung ihrer Spenden unterrichtet werden. Ein altes Sprichwort sagt, daß derjenige, der die Musiker bezahlt, auch bestimmen darf, was sie spielen. Rechenschaft ablegen über die Aktivitäten innerhalb der AA-Gemeinschaft? Vielleicht der Ministerialbürokratie oder der Kantonalverwaltung? Das verträgt sich nicht mit dem Anonymitätsprinzip unserer Gemeinschaft. Außerdem braucht AA nicht sehr viel Geld. Nachdem sich die Gemeinschaft aus guten Gründen nicht in Fragen allgemeiner Gesundheitspolitik und Sozialpolitik- auch nicht auf dem Suchtsektor -einmischt, nachdem AA weder Kliniken unterhalten will noch kann, wozu sollten große Summen verwendet werden? -Zweifellos sind viele leidende Alkoholiker, die zu AA kommen, auch in schier auswegloser materieller Not. Könnte und würde die Gemeinschaft diesen neuen Freunden finanziell unter die Arme greifen, sie würde mit großer Wahrscheinlichkeit den Ansatz zur Umkehr abermals zunichtemachen. Viel Geld würde die AA-Gemeinschaft auch zu allerlei Aktivitäten verleiten und damit ins Rampenlicht öffentlicher Aufmerksamkeit rücken. Auch das würde dem leidenden Alkoholiker eher schaden als nützen. AA sollte einen gewissen Bekanntheitsgrad haben. AA soll~ so bekannt sein, daß sich der leidende Alkoholiker oder ein Angehöriger daran erinnert, wenn es nicht mehr weitergeht. AA aber sollte weiterhin keine Leuchtreklame an Treffpunkten am Marktplatz haben: das kleine AA-Schildchen am Gruppenraum in der Seitenstraße erleichtert dem Neuen die Kontaktaufnahme mit unserer Gemeinschaft. Die Ablehnung von außen kommender Unterstützung hat gute und praktische Gründe. AA kann zum Beispiel überhaupt keine staatliche Unterstützung annehmen, weil diese im Regelfall nach der Kopfzahl der betreuten Suchtkranken aufgeschlüsselt wird. Und wer kann bei AA hier auf einem Fragebogen wirklich eine ehrliche Antwort geben? Lügen aber wollen wir doch eigentlich alle nicht mehr. Die Siebente Tradition besagt, daß die AA-Gemeinschaft ihren selbstgestellten Auftrag, Alkoholikern zur Nüchternheit zu verhelfen, am besten aus eigener Kraft erfüllt. Bei allen Zusammenkünften von Anonymen Alkoholikern besteht die Möglichkeit zur Spende. Das gesammelte Geld liegt zunächst in der Verfügungsgewalt der mit großer Selbständigkeit ausgestatteten Gruppen. Sie bestreiten damit ihre laufenden Ausgaben. Und das sollten sie auch wirklich tun. Die Gruppe braucht sich nichts schenken zu lassen. Die Siebente Tradition bezieht sich nämlich nicht nur auf Geld. Auch die kostenfreie Überlassung eines Gruppenraumes beispielsweise durch eine Kirchengemeinde ist eine von außen kommende Unterstützung, die nach der Siebenten Tradition abzulehnen ist. Wo eine Gruppe kostenfrei zu Gast ist, muß sie sich Vorschriften machen lassen. Besser ist es, in einem bescheidenen, selbst hergerichteten, ordnungsmäßig gemieteten Keller als Gruppe sein eigener Herr zu sein, als gratis und gnädig irgendwo Gastrecht zu genießen. Unnötig und unredlich ist es auch, wenn einzelne AA-Freunde Einladungsschreiben "schwarz" und heimlich in ihrer Arbeitsstätte fotokopieren oder gar über den Postversand ihres Arbeitgebers laufen lassen. So etwas geht nach der Siebenten Tradition auch dann nicht, wenn der AA-Freund, der dies anbietet, hauptberuflich in irgendeiner Suchtberatung arbeitet. "Wir erhalten uns selbst aus eigenen Spenden", heißt es in der Präambel. Diese Spenden müssen für die Miete des Gruppenraumes reichen. Wo sie zum Versand von Einladungen für ein öffentliches Informationsmeeting nicht reichen, sollte man damit warten, bis das Geld beisammen ist. Die einzelne AA-Gruppe wird mit dem Geld aus einer Hutsammlung auch AA-Literatur kaufen, um vor allem in der Fünften Tradition und dem Zwölften Schritt wirken zu können. Die Einzelgruppe aber kann, wenn sie ihren Hauptzweck ernst nimmt, die Botschaft weiterzutragen, nicht alles gesammelte Geld allein verbrauchen. Sie weiß, daß es regional, national und international Anlaufstellen für noch leidende Alkoholiker gibt, sie weiß auch, daß diese zentralen AA-Dienststellen ebenfalls von außen kommende Unterstützung ablehnen. Je mehr AA bekannt wird, umso mehr Hilferufe kommen zu diesen Kontaktstellen, die nur bestehen können, wenn sie von den einzelnen Anonymen Alkoholikern und den Gruppen getragen werden. Unser Weg
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