DIE VIERTE TRADITIONJede Gruppe sollte selbständig sein, außer in Dingen, die andere Gruppen oder AA als Ganzes angehen. In den drei ersten Traditionen ging es um die Einigkeit in der AA-Gemeinschaft, um die geistige Führerschaft, die Rolle vorübergehend betrauter Funktionsträger und um die Aufnahmebedingungen in die Gemeinschaft. Ab der Vierten Tradition werden uns Erfahrungswerte über die praktische Arbeit der Gruppe vermittelt. Auf den ersten Blick mag die Aussage der Vierten Tradition für den Ratlosen nicht recht hilfreich sein. Steht doch dort sinngemäß als Antwort auf die Frage, was die Gruppe tun kann und soll, in etwa: Macht, was ihr wollt! Jemand, der AA nicht kennt, muß nach der Lektüre dieser weitherzigsten aller denkbaren Vorschriften zu dem Schluß kommen, daß dies mit Sicherheit den Untergang und Zerfall der Gemeinschaft bedeutet. Wie soll eine Organisation funktionieren, wird sich der Außenstehende fragen, in der jede Gruppe machen kann, was sie will! Es zählt selbst für Leute, die seit Jahrzehnten zur Gemeinschaft gehören, zu deren Wundem, daß es dennoch in dieser schier grenzenlosen Freiheit eine Einheit des Wollens und des Handelns gibt. Wer daran Zweifel hegt, wird diese spätestens dann begraben, wenn er größere Reisen unternommen hat und in verschiedenen Städten des Landes, in verschiedenen Ländern oder gar Kontinenten AA-Meetings besucht hat. Der Reisende, der montags in Zürich, dienstags in München, mittwochs in Frankfurt, donnerstags in Dortmund, freitags in Berlin, am Wochenende in Hamburg und montags danach vielleicht auf Sylt jeweils ein Meeting besucht, wird erzählen können, daß er zwar überall anderen Menschen, aber immer demselben Geist begegnet ist. Und wenn dieser reiselustige AA-Freund in aufeinanderfolgenden Jahren Urlaub in Schottland, Spanien, Mexiko oder Indien macht, er wird überall AA-Gruppen finden, in denen Alkoholiker im Bemühen um das Programm nach dem Hauptzweck unserer Gemeinschaft streben, "nüchtern zu bleiben und anderen Alkoholikern zur Genesung vom Alkoholismus zu verhelfen". Wer bei einer Reise durch die Vereinigten Staaten in einige der dort bestehenden zigtausend Gruppen hineinschaut, wird als Alkoholiker überall herzliche Aufnahme finden und feststellen, daß er diesseits oder jenseits des Atlantiks gut aufgehoben ist, in der "Gemeinschaft von Männern und Frauen", die hier wie dort "ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen". Die ,,Erfahrungen" (von fahren, reisen) lehren uns eine bei AA trotz aller Freizügigkeit unumstößliche Regel: Alle Türen zu AA-Meetings stehen jedem jederzeit offen, denn (siehe Tradition drei), die einzige Voraussetzung... In AA gibt es keine Exklusiv-Gruppen, in denen durch Spezialisierung auf einen Themenbereich oder Teilnehmerkreis (Nichtraucher, Frauen, Homosexuelle, Krawattenträger, Schlagerstars, Ärzte oder sonst was) die Teilnahme irgendeines anderen Alkoholikers am Meeting ausgeschlossen sein kann. In Amerika beispielsweise gibt es vor allem in den ganz großen Städten mit hunderten von Gruppen teilweise gewisse Spezialisierungen. Da steht zum Beispiel im vierhundert Wochen-Meetings umfassenden Programm von Denver bei der einen oder anderen Gruppe "Beginners" oder "Womens Group" oder auch "Live an let live", wobei in Klammem hinzugefügt ist "gay", was so viel heißt wie homosexuell. Aber nirgendwo wird man einem Alkoholiker die Tür weisen, wenn er an einem Meeting teilnehmen will: einem Mann nicht in der Frauengruppe, dem Heterosexuellen nicht in der "Gay-Group", dem alten AA-Freund nicht bei den "Beginners". Wo diese Regel nicht eingehalten wird, macht die entsprechende Gruppe von ihrer Freizügigkeit der Vierten Tradition Gebrauch, die auch die Freiheit beinhaltet, Fehler zu machen. Und zweifellos sind in den über vier Jahrzehnten des - Bestehens so ziemlich alle Fehler von Gruppen gemacht worden, die denkbar sind. Immer wieder aber hat sich herausgestellt, daß jener liebende Gott, von dem in der Zweiten Tradition als der höchsten Autorität die Rede ist, das AA-Schiff auf den richtigen Kurs zurückbringt Die Selbständigkeit der AA-Gruppe nach dem Wortlaut der Vierten Tradition findet ihre Einschränkung durch die vorausgestellte Dritte Tradition, die jedem Alkoholiker, der mit dem Trinken aufhören will, die Türen zu jeder AA-Gruppe öffnet. Hier muß zur Beseitigung einer gelegentlich aufkommenden Unklarheit auch gesagt werden, daß es keine „Gäste" bei einem (geschlossenen) AA-Meeting gibt. So wie kein anwesender AA-Freund von der Hut-Sammlung ausgeschlossen wird, so ist ihm auch nicht die Teilnahme an Aussprachen und Abstimmungen zu verwehren. In der Praxis aber sieht es doch so aus, daß auch der AA-Freund X, der fast jeden Tag irgendwo ein Meeting besucht, eine Stammgruppe hat. Dort wird er an den Entscheidungsprozessen teilnehmen. Der Respekt vor der Freiheit und der Autonomie einer anderen Gruppe, an deren Meeting er zufällig teilnimmt, wird diesem Freund Zurückhaltung auferlegen, wenn dort gruppeninterne Dinge geregelt werden. Verbieten kann man ihm allerdings nicht einmal die Teilnahme an Abstimmungen. Außerhalb dieser großen Freizügigkeit der offenen Türen, offenen Aussprachen und offenen Abstimmungen liegen Arbeitsbesprechungen, die auf lokaler, regionaler, nationaler oder internationaler Ebene gelegentlich von den "betrauten Dienern" geführt werden. In der Zusammenkunft aller Gruppensprecher einer Region können unmöglich auch die Zuhörer an der Diskussion beteiligt werden. Die Gruppensprecher, die denen verantwortlich sind, denen sie dienen (9. Tradition), vertreten dort die Gruppe und werden deren Standpunkt darlegen. Die Selbständigkeit der einzelnen AA-Gruppe stößt nach der Vierten Tradition dort an Grenzen, wo andere AA-Gruppen oder AA als Ganzes betroffen sind. Dafür ließen sich hunderte von Beispielen anführen. Greifen wir eins heraus: In einer Stadt gibt es fünf AA-Gruppen. Eine davon hat erfahren, daß in einem alten Haus für einen spottbilligen Preis ausbaufähige Räume für eine Kontaktstelle anzumieten wären. Das kann die genannte Gruppe nicht im Alleingang machen. Sie braucht dazu das Einverständnis und die Mitwirkung der anderen vier Gruppen. Auch die Betreuung von Krankenhäusern und Gefängnissen sollten in einer Stadt mit mehreren AA-Gruppen untereinander abgesprochen werden. Die in der Vierten Tradition den Einzelgruppen zugesprochene weitgehende Selbständigkeit sollte als Auftrag zur inneren Autonomie verstanden werden. Alles, was an Aktivitäten Außenwirkung erzielt, sollte schon mit Blick auf die Tradition zehn und elf mit Vorsicht angegangen werden. Behutsamkeit aber legt auch schon die Vierte Tradition auf, wo AA als Ganzes betroffen ist. Die Gemeinschaft ist immer dann betroffen, wenn eine Gruppe an die Öffentlichkeit tritt. Aussagen in einer öffentlichen Veranstaltung werden von den Besuchern -auch von der Presse -nie in Zusammenhang gesetzt mit einer Gruppe. Immer wird es heißen: Die Anonymen Alkoholiker … Übrigens ist auch eine Gruppen-Entscheidung über die Verwendung des Geldes aus der Hutsammlung im Sinne der Vierten Tradition immer eine die Gesamtgemeinschaft betreffende Angelegenheit.Unser Weg
|