DIE ZEHNTE TRADITIONAA nimmt niemals Stellung zu Fragen außerhalb ihrer Gemeinschaft; deshalb sollte auch der AA-Name niemals in öffentliche Streitfragen verwickelt werden. Wer von uns hatte nicht schon einmal den Kugelschreiber oder den Telefonhörer in der Hand, um spontan auf einen seiner Meinung nach -unrichtigen Zeitungsartikel oder auf eine Fernsehsendung über die Behandlung von Alkoholkranken zu antworten. Das Wort "Anonyme Alkoholiker" neben der Unterschrift unter einem solchen Leserbrief wäre ein Ausflug auf ein Gebiet, auf dem der Fortbestand unserer Gemeinschaft gefährdet ist. Im Namen von AA niemals zu öffentlichen Streitfragen Stellung zu nehmen, ist weniger eine Tugend als ein Gebot des Selbstschutzes. Wir wollen uns innerhalb unserer Gemeinschaft nicht in Fraktionen aufteilen, von denen die eine diesen und die andere jenen Standpunkt zu einer Detailfrage hat. Solche unterschiedlichen Auffassungen gibt es mit Sicherheit innerhalb der AA-Gemeinschaft, aber wir tragen sie nicht öffentlich und erst recht nicht unter Einbeziehung des AA-Namens öffentlich aus. Diese Zurückhaltung hat ihre Ursache nicht in einem Gefühl der Überlegenheit, sondern in der Erkenntnis, daß für unser Weiterleben das unversehrte Bestehen und Wachsen von AA am wichtigsten ist. Außerdem wäre es höchst zweifelhaft, ob die offizielle Stellungnahme von AA als Gesamtgemeinschaft in einer Streitfrage besonderes Gewicht hätte. Schließlich müßte eine solche Stellungnahme ja auch von jemand namentlich Bekanntem abgegeben werden und schon hätte AA einen Vorsitzenden und die Anonymität wäre dahin. Die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker hatte eine Vorläuferin im vorigen Jahrhundert in den Vereinigten Staaten. Diese "Washington-Gesellschaft" fiel auseinander, als sie Partei ergriff im politischen Streit um die Sklaverei und als sie einen Kreuzzug für Enthaltsamkeit startete. Dieses Beispiel lehrt uns, wie wichtig es ist, daß wir uns unsere eigenen Mittel und Wege zum Überleben in voller Kraft erhalten. Deshalb steht in unserer Gemeinschaft unser gemeinsames Wohlergehen an erster Stelle, weil unser Leben von der Einigkeit in AA abhängt. Das Leben nach den Zwölf Schritten ist der Versuch, echte Demut zu erlangen und Selbstachtung durch Wahrhaftigkeit aufzubauen. Die Zwölf Traditionen regeln das Zusammenleben in AA und weisen in Demut jedem Einzelnen seinen Platz in der Gemeinschaft; sie zeigen uns aber auch in kluger Selbsteinschätzung, wo der Platz der AA-Gemeinschaft in der Welt ist. Die für den Einzelnen geltende Mahnung: "Nimm Dich nicht so wichtig" steht in der Zehnten Tradition für die Gesamtgemeinschaft. Ein Beispiel soll aufzeigen, wo in Vergangenheit und Gegenwart besonders häufig nicht im Sinne der Zehnten Tradition gehandelt wird: die Einmischung in therapeutische Streitfragen. Unser Hang, uns als Fachleute im Alkoholbereich zu fühlen, verleitet dazu, mal der Kurz-oder mal der Langzeittherapie das Wort zu reden, obwohl uns das nichts angeht. Wir sind keine Hilfstruppe der Ärzte, noch haben wir eine Alternativmedizin zu bieten. Wir können nichts, als anderen vorleben, wie man ohne Alkohol lebt. Auf ein gefährliches Feld begeben sich gelegentlich AA-Freunde, die Klinik-oder Gefängnis-Gruppen betreuen. Dort, wo sie Gastrecht genießen, diskutieren sie über die angewandten Therapieformen oder über die Hausordnung in Strafanstalten. Sie stiften damit Unruhe und schaden unserem Hauptanliegen. Die Anonymen Alkoholiker tun sich selbst den besten Dienst, wenn sie die Zehnte Tradition peinlich genau nehmen. "Außerhalb unserer Gemeinschaft" das umschließt wirklich alles, was nicht AA ist. Auch, was AI-Anon macht oder nicht macht, geht uns nach unserer Zehnten Tradition nichts an. Dies gilt erst recht für andere weitläufige Verwandte, die sich an unser Programm anlehnen. Die bewußte Zurückhaltung unserer AA-Gemeinschaft bei öffentlichen Auseinandersetzungen besagt nun aber nicht, daß wir ein Verein der sanftmütigen Gleichgültigkeit wären. Jeder nüchtern gewordene Alkoholiker ist ein gleichwertiges Glied in der menschlichen Gesellschaft, dessen sachlich vorgetragenes Urteil gilt, dem man zuhört und der Einfluß nehmen kann. AA empfiehlt dem Einzelnen kein Duckmäusertum, wir sollen nicht zu Trittbrettfahrern gesellschaftlicher Entwicklungen degradiert werden. Um den Mut, an änderbaren Dingen mitzuwirken, bitten wir im Gelassenheitsspruch. Nur eben - und das steht in der Zehnten Tradition - sollte aus all solchen Aktivitäten der Name der Anonymen Alkoholiker herausgehalten werden. Innerhalb der Gemeinschaft hat es Auseinandersetzungen gegeben, solange AA besteht. Die Zehnte Tradition könnte zu dem Trugschluß verleiten, wir wären eine große, glück1iche Familie, in der nichts als Harmonie den Ton bestimmte. Dem war und ist nicht so. Der zusammengewürfelte Haufen individualistischer, debattierfreudiger Extrinker tut sich bisweilen schwer, den richtigen Ton und den rechten Weg des Zusammenlebens zu finden. Beruhigend ist eigentlich nur, daß es selbst bei leidenschaftlich geführten Diskussionen innerhalb unserer Gemeinschaft immer wieder nur um die bestmögliche Form geht, in der wir unseren Auftrag erfüllen können: anderen Alkoholikern zu helfen. Unser Weg
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