DER ACHTE SCHRITTDer Achte Schritt Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wiedergutzumachen. Hört
es denn überhaupt nicht auf, dieses Herumkramen in der Vergangenheit?
Wie lange soll denn das noch fortgesetzt werden? - Opposition meldet
sich, wenn im Programm der Anonymen Alkoholiker im Achten Schritt noch
einmal die Vergangenheit heraufbeschworen wird. "Da steckt doch ein
Widerspruch drin", sagt der Skeptiker: "Heißt es nicht, wir sollen im
Heute leben, wir sollen das Gestern als unabänderlich ruhen lassen?" Was auf den ersten Blick als Widerspruch erscheint, erweist sich bei einigem Nachdenken als logisch: Die in vorausgegangenen Schritten begonnene Aufräumungsarbeit soll jetzt zum Abschluss gebracht werden. Das ist die Voraussetzung für ein unbeschwertes Leben im Heute. Ein Dauerauftrag Im Achten und im Neunten Schritt geht es um die Ordnung der mitmenschlichen Beziehungen. Das ist ein Stück Vergangenheitsbewältigung und gleichzeitig ein bleibender Auftrag für unser neues Leben. Trotz allen Bemühens um Ehrlichkeit und Toleranz nämlich passiert es uns auch jetzt, dass uns die Nerven durchgehen, dass wir andere kränken. Auch für das bei der täglichen Inventur aufgedeckte Fehlverhalten gilt die Empfehlung der Schritte acht und neun. Aus dieser Sicht ist der Achte Schritt wie alle Punkte des A.A.-Programms sowohl eine einmal zu bewältigende Aufgäbe als auch ein Dauerauftrag. Dieser Dauerauftrag heißt, sich um ein geordnetes, mitmenschliches Verhältnis bemühen. Unnötig zu sagen, dass man damit nie hundertprozentig fertig wird, dass dies eine Lebensaufgabe bleibt, die an einem Tag besser gelingt, während man an einem anderen Tag wieder zurückgeworfen wird. Voraussetzung aber, dieses Lebenswerk anzugehen, ist die Ordnung der mitmenschlichen Beziehungen aus der Vergangenheit. Fluchtversuche Wie notwendig und wie unangenehm dieser Teil der Aufräumungsarbeit ist, wird uns klar, wenn wir uns daran erinnern, dass wir alle "irgendwo neu anfangen" wollen oder wollten. Es gehört fast zwangsläufig zum Prozess des Nüchternwerdens, dass man fort will: aus dem Beruf, aus der Partnerschaft, vom Arbeitsplatz, aus der Stadt, aus der Gegend, aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Wenn wir nach den Gründen für dieses Ausbrechenwollen suchen und dabei ehrlich sind, stoßen wir auf zwei Dinge: einmal glauben wir, die Schuld für unser Versagen und unser Trinken bei anderen Personen oder in den früheren Lebensumständen zu sehen; zum anderen drücken wir uns vor der Konfrontation mit der Vergangenheit. Der erste vorgeschobene Grund für den ins Auge gefassten Fluchtversuch ist falsch und gefährlich. Wir haben nämlich nicht getrunken wegen irgendwelcher widriger Lebensumstände oder wegen der Nähe irgendwelcher Leute, sondern, weil wir Alkoholiker sind. Es ist für uns gut und wichtig, das zu wissen. Ein Orts-, Berufs- oder auch Partnerwechsel würde nämlich an dem Grundtatbestand, dass wir Alkoholiker sind, nichts ändern. Wenn wir den Fluchtversuch in die Tat umsetzen (und nicht wenige haben uns das vorgemacht), werden wir bald bitter erfahren, dass unsere Krankheit mit uns reist. Der zweite Grund, der den an der Schwelle zur Nüchternheit stehenden Alkoholiker an Veränderung auf den vorher beschriebenen Feldern denken lässt, ist das Gewissen. Ein unangenehmes Gefühl steigt in uns hoch, wenn wir an die zurückliegende, teilweise schlimme Zeit denken. Hier hakt der Achte Schritt ein, der unserer Drückebergerei einen Riegel vorschieben will. Denn genauso wie wir die Krankheit bei einem eventuellen Wechsel mitnähmen, genauso würde uns die Vergangenheit begleiten. Das bisher Gesagte soll nicht heißen, dass das A.A.-Programm uns an Ort, Partner und Arbeitsplatz auf ewig bindet. Im ein oder anderen Fall mögen solche Wechsel sinnvoll, nützlich und notwendig sein. Nur sollen wir solche Wechsel nicht ins Auge fassen, um nüchtern zu werden, sondern nachdem wir in Nüchternheit ein gewisses Maß an Stabilität gefunden haben. Viele, die zuvor solche Veränderungen geplant hatten, lassen später diese Pläne fallen. Der Achte Schritt empfiehlt uns, eine Liste zu machen. "Auch das noch", stöhnt ein Zwischenrufer im Meeting. "Sind wir denn Kinder, die mit einem Zettelchen zum Kaufmann geschickt werden?" Diesem Freund wäre zunächst einmal zu entgegnen, dass selbst Meisterhausfrauen mit einer zuvor nach auftretendem Bedarf aufgestellten Liste einkaufen gehen, um ihr Budget nicht in Unordnung zu bringen. Ein Stück Papier zur Hand zu nehmen und darauf Gedanken niederzuschreiben, ist nicht albern oder kindisch. Ähnlich wie man sich von Problemen freisprechen kann, indem man sie - beispielsweise im Meeting - darlegt, so kann man sich auch freischreiben. Hier im Achten Schritt aber geht es nicht um die niedergeschriebene Lebensgeschichte oder um einzelne Kapitel daraus, sondern um das Anlegen einer Namensliste. Personen sollen wir aufschreiben, die wir in der Vergangenheit gekränkt haben, denen wir Schaden zugefügt haben. Keinem geschadet? Wenn der Schritt im Meeting zur Sprache kommt, meldet sich mit Sicherheit einer oder eine, der sagt: Ich habe niemandem geschadet außer meinem Geldbeutel; ich habe niemanden gekränkt, - nur meine Leber. Im Weiterreden wird unser Freund ein wenig ins Drucksen kommen, er wird "na ja" und "manchmal" stottern und eingestehen, dass es schon hin und wieder Ärger gegeben hat - zu Hause, mal am Arbeitsplatz, manchmal auch in der Wirtschaft. Und mit den Kindern. Und mit der Verwandtschaft, die ihm aber ohnehin gestohlen bleiben kann. Unmerklich ist dieser Freund dabei, die "Liste" zu machen, von der im Achten Schritt die Rede ist. Auch wenn er jetzt schnell hinzufügt, dass das alles inzwischen wieder in Ordnung ist, wird ihm vielleicht später einfallen, dass er mit dem einen oder der anderen doch noch mal reden sollte. Beispielsweise mit der Verwandtschaft. Obwohl er hier nach wie vor der Meinung ist, dass die und nicht er an dem Zerwürfnis Schuld sind. Zwei vorschnellen Reaktionen auf die Herausforderung des Achten Schrittes gilt es, Nachdenken entgegenzusetzen. Erstens die typische und verständliche spontane Abwehr-Reaktion: ich habe im großen und ganzen niemandem Schaden zugefügt. Diese Bemerkung wird untermauert mit dem Hinweis darauf, dass die Familie immer zu essen hatte und auch sonst hinlänglich versorgt war. Unter Bezugnahme auf schlimmere Alkoholiker-Berichte, die im Meeting erzählt worden sind, sagt man: so schlimm war es bei mir nicht; ich habe meine Arbeitsstelle nicht verloren, war auch ziemlich regelmäßig zur Arbeit gegangen. Ich war nicht monatelang in einer Entziehungskur, ich habe kein Geld für meine Trink-Eskapaden aus der Haushaltskasse oder der Kindersparbüchse gestohlen. Und so weiter. Vordergründig mag dieser Freund, der auch noch ergänzt, "dass es im Bett immer noch geklappt hat" tatsächlich niemandem Schaden zugefügt haben. Aber: wäre das Leben in der Familie, in der Freizeit und im Urlaub nicht anders verlaufen ohne seine Alkoholkrankheit? Vielleicht ist ihm das Ausmaß dessen, was der Partner mitzutragen hatte, nie richtig bewusst geworden, weil sich der Partner resignierend gefügt und mit Vorwürfen zurückgehalten hat? War das Verhältnis der Kinder nicht mehr von Angst vor seinen Unberechenbarkeiten als von Zuneigung und Liebe geprägt? Und wenn am Arbeitsplatz alles dem Anschein nach noch so halbwegs lief, war das nicht eher das Ergebnis kameradschaftlicher Hilfsbereitschaft der Kollegen als ein Verdienst eigener Tüchtigkeit? Haben nicht oft andere stillschweigend die Arbeit miterledigt, um einen Streit zu vermeiden und so den Arbeitsfrieden zu erhalten? Ein anderer wird beim Überdenken der mitmenschlichen Beziehungen auf seine Eltern stoßen, auf den schweigend von der Mutter getragenen Kummer, auf das sorgenvolle Gesicht des Vaters. Einem dritten wird es zu denken geben, dass im Laufe der Jahre der Kreis wertvoller Freundschaften nicht grundlos geschrumpft ist. Jedem von uns fällt eine ganze Menge ein, wenn wir im Sinne des Achten Schrittes "eine Liste der Personen machen, denen wir Schaden zugefügt haben", auch wenn sich solcher Schaden nicht in Mark und Pfennig, nicht in anderen zugefügten Knochenbrüchen, Nervenzusammenbrüchen oder zerbeulten Kotflügeln aufaddieren lässt. Wunden, die die Zeit nicht heilt Solche Schäden wären auch nach der Empfehlung dieses Schrittes relativ leicht - oft mit Bargeld - wiedergutzumachen. Schwieriger ist das schon bei dem von uns anderen zugefügten seelischen Flurschaden, zumal wenn dieser unser soziales Umfeld nicht bei einmaliger Entgleisung wie ein Unwetter getroffen hat (daran würden wir uns leichter erinnern), sondern durch tägliche Sticheleien. Lieblosigkeiten, durch Ichbezogenheit, Misslaune und Unzuverlässigkeit. Wer bis hierhin gelesen hat, wird vielleicht jetzt sagen: Okay, auch bei mir war nicht alles so in Ordnung, wie ich zunächst gesagt habe. Aber soll ich jetzt durch den Wiedergutmachungsversuch alte Wunden wieder aufreißen? Nach einer gängigen Redensart frisst nur ein Kamel das Gras weg, das über eine Sache gewachsen ist. - Zu dieser zweiten Abwehr-Reaktion ist zu sagen: Man sollte nicht so sicher sein, ob Gras darüber gewachsen ist. Dies zu glauben, ist oft nur ein Vorwand, um der unangenehmen Wiedergutmachung aus dem Weg zu gehen. Verbünden sich in uns nicht Angst und Stolz gegen die Einsicht, dass es uns besser bekommt, wenn wir die Vergangenheit bereinigen? Es geht dabei nicht vordergründig um den, dem wir Schaden zugefügt haben, sondern um uns. Vielleicht macht ein Beispiel dies deutlich: Der Alkoholiker X hat irgendwann in einem Supermarkt eine Flasche Schnaps mitgehen lassen, nicht weil er ein Dieb ist, sondern weil ihn die körperliche Sucht dazu getrieben hat. Das hat damals niemand gemerkt. Als unser A.A.-Freund X den Achten Schritt machte, hat er die Konzernzentrale davon in Kenntnis gesetzt (ohne seinen Namen zu nennen), sich entschuldigt und den Betrag beigefügt. So kann man Dinge wiedergutmachen, von denen der Geschädigte nicht einmal etwas gemerkt hat. Schwieriger und unangenehmer sind Schäden zu bereinigen, die sich durch uns im mitmenschlichen Verhältnis ergeben haben. Hier hilft ' nur die Aussprache, deren Gegenstand nichts als die Information über unsere Krankheit zu sein braucht. In welchen Fällen solche Aussprachen angebracht sind, wo man in anderen Fällen darauf verzichten sollte, darüber wird beim Neunten Schritt zu sprechen sein. Nutzen aus der Vergangenheit Jedenfalls können wir aus der im Achten Schritt in Angriff genommenen Neuordnung unserer mitmenschlichen Beziehungen persönlich viel Nutzen ziehen. Weil wir nicht wie Robinson allein auf einer Insel leben, ist all' unser Handeln nicht ohne Nebenwirkungen auf unsere Umwelt und unsere "Nächsten". Im Nachdenken darüber, wo wir diesen Nächsten in der Vergangenheit Schaden zugefügt haben, stoßen wir auf Aspekte unseres Charakterbildes, die uns bei isolierter, ichbezogener Betrachtung bisher nicht so deutlich geworden sind. Alle Beschäftigung mit der Vergangenheit aber ist sinnloses Grübeln, das uns der Verzweiflung und damit dem Rückfall nahebringt, wenn wir es nicht positiv ummünzend angehen. Das heißt, mit dem Willen, aus dem schlechten Gestern Nutzen zu ziehen für das bessere Heute. Der
im Achten Schritt empfohlene Wille zur Wiedergutmachung, zur Ordnung
unserer partnerschaftlichen, mitmenschlichen Verhältnisse ist, wenn er
in die Tat umgesetzt sein wird, das Ende der Einsamkeit, in die wir uns
getrunken haben. Es ist das Ende der Isolation. Nach dieser
Vergangenheitsbewältigung brauchen wir nicht mehr die Straßenseite zu
wechseln, wenn der frühere Chef oder der ehemalige Kollege auf uns
zukommt. Wir brauchen nicht mehr mit Angst an den Briefkasten zu gehen
oder zusammenzuzucken, wenn es an der Wohnungstür klingelt. Das zu erreichen, ist der tiefere Sinn des Achten Schrittes. Unser Weg
|