DER SECHSTE SCHRITT


Der Sechste Schritt 

Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen. 

Im Programm der Anonymen Alkoholiker sind alle Schritte innerlich voneinander abhängig. Je mehr man sich mit diesem Programm beschäftigt, desto deutlicher wird auch, dass diese Schritte einen ineinandergreifenden Bezug haben und dass sie logisch aufeinander aufbauen. Fundament ist dabei der unverzichtbare Erste Schritt, ohne dessen ehrlichen Vollzug wir unsere Sucht nicht zum Stillstand gebracht hätten. 

Immer wieder kommt man deshalb auch im Nachdenken über die Schritte zwei bis zwölf auf die Eingangsvoraussetzung des Ersten Schrittes zurück, denn wer nicht mit der auch im Ersten Schritt empfohlenen Vorbehaltlosigkeit seine Kraftlosigkeit dem Alkohol gegenüber zugegeben hat, der kann den geraden Weg der übrigen Schritte nicht gehen. Er torkelt im Programm, wie er früher in seiner nassen Zeit getorkelt ist. 

Wer im Geheimen seine Ohnmacht gegenüber dem Alkohol für einen zeitlich begrenzten Zustand, für ein vorübergehendes Versagen hält, der lässt sich Hintertürchen offen und programmiert damit den Rückfall vor, der unweigerlich, wenn auch vielleicht erst einige Zeit später, eintritt. 

Deshalb ist im Meeting oder bei der privaten Beschäftigung mit dem Programm die gedankliche Auseinandersetzung über jeden der dem Ersten Schritt folgenden Punkte immer wieder in Bezug gesetzt zu diesem Ersten Schritt. Dort heißt es, dass wir neben dem Eingeständnis unserer Kraftlosigkeit dem Alkohol gegenüber auch zugegeben haben, dass wir unser Leben nicht mehr meistern konnten. Im englischen Originaltext heißt es, wir haben zugegeben, dass unser Leben "unmanageable" geworden ist. Dieses schwer zu übersetzende Wort meint so etwas in der Richtung, dass unser Leben unlenkbar, unregierbar, unmachbar geworden ist, dass es uns aus der Hand geglitten ist, dass wir das Leben - wie es in der offiziellen Übersetzung heißt - nicht mehr meistern konnten. "So hätte ich nicht weiterleben können", sagen oft Freunde, wenn sie an diese Stelle ihres Lebensberichtes kommen. Manchmal fügen sie an: "Ich wäre kaputt gegangen; wahrscheinlich würde ich überhaupt nicht mehr leben, wenn ich damals nicht ausgestiegen wäre." 

Hier ist die Rede von dem Augenblick unserer Entwicklung, den die Amerikaner "surrender" nennen. "Surrender" ist ein Tätigkeitswort, das der Kleine Langenscheidt mit "sich ergeben" übersetzt. Größere Wörterbücher geben dafür wahlweise noch die deutschen Wörter "sich ausliefern", "aufgeben" an. Surrender als Hauptwort heißt Übergabe, Ergebung, Kapitulation. 

Kapitulieren muss derjenige, der in einer Auseinandersetzung mit seinen Mitteln am Ende ist, wer sein Pulver verschossen hat, während der Gegner noch über Waffenarsenale verfügt. In unserem Fall heißt das, dass wir eines Tages zur Aufgabe im hoffnungslos gewordenen Anrennen gegen unsere Sucht gezwungen waren. 

Das Eingeständnis eigener Kraftlosigkeit fällt niemandem leicht. In Bezug auf den Alkohol ist uns dieses Eingeständnis durch die niederdrückenden Folgen der Sucht schließlich sozusagen aufgezwungen worden. Tragisch und fatal ist es dabei für denjenigen, der nur halbherzig kapituliert, weil er sich nach einigen Tagen der Abstinenz körperlich schon wieder so fit fühlt, dass er den sinnlosen Kampf erneut aufzunehmen bereit ist. Aber gehen wir davon aus, dass wir völlig kapituliert haben, was den Alkohol betrifft. Gehen wir auch davon aus, dass uns diese Kapitulation Anlass und Ausgangspunkt zu einer bisher erlebten Reihe von trockenen vierundzwanzig Stunden geworden ist. - Das ist schon viel, damit ist schon eine Menge erreicht, aber nicht alles, nicht das, was uns auf die Dauer abstinent halten und in ein neues, zufriedenes Leben führen kann. 

Leben wie früher? 

Die Kapitulation, die sich ausschließlich auf den Alkohol beschränkt, ist eine halbe Sache. Sie wäre vergleichbar der Einstellung der Kampfhandlungen an nur einer Front. Es hat sich nämlich als unmöglich erwiesen, das Suchtproblem nur dadurch zu lösen, dass man das Suchtmittel meidet. "Ich will und werde nicht mehr trinken", hat neulich ein Fünfunddreißigjähriger im Meeting gesagt: "Das genügt mir; im übrigen will ich wieder genauso leben wie vor zehn Jahren, wie ich gelebt habe bis zu dem Zeitpunkt, als mein Trinken problematisch wurde." 

Zu diesem Diskussionsbeitrag ist zu sagen, dass die Absicht, nicht mehr zu trinken, so wie es sich dieser Freund vorstellt, nicht realisierbar ist. Erstens einmal ist es überhaupt unmöglich, die Lebensuhr zurückzudrehen, zehn Jahre Trinkerzeit auszuradieren. Aber selbst wenn es diesem 35 Jahre alten Mann gelänge, den Faden dort anzuknüpfen, wo er ihm als Fünfundzwanzigjährigem gerissen ist, was wäre dann mit ihm? - Er wäre dann an dem Punkt, an dem - um seine eigenen Worte zu gebrauchen - sein Trinken problematisch geworden ist. Könnte er also die damaligen Umstände seines Lebens im persönlichen und beruflichen Bereich spiegelbildlich gleich wieder herstellen, dann wäre er genau wieder an der Schwelle seiner Trinkerzeit. 

Und noch ein Argument gegen die Theorie des Wiederanknüpfens an die Vortrinkerzeit. Der Freund, von dem hier als Beispiel die Rede ist, kann und darf gar nicht zehn Jahre zurückschalten. Er hat davon gesprochen, dass sein Trinken damals problematisch geworden ist. Das heißt doch, dass er bis dahin auch getrunken hat, wenngleich nach seiner rückschauenden Beobachtung kontrolliert. Das beispielsweise wird er jetzt nicht mehr können, nachdem er sich als Alkoholiker erkannt hat und weiß, dass das erste von ihm getrunkene Glas den Rückfall einleitet. 

Kapitulation an allen Fronten 

Das Eingeständnis der Niederlage, das uns im Ersten Schritt empfohlen wird, geht über die Kampf-Einstellung an der Alkoholfront hinaus. Wir geben im Ersten Schritt nämlich zu, dass unser Leben kein Fundament mehr hatte. Der Alkohol, der über lange Zeit zum beherrschenden Mittelpunkt all unserer Lebensbeziehungen und Lebensäußerungen geworden ist, hat m uns tiefe Spuren, ja Wunden geschaffen. All das, was er angerichtet hat, geht nicht automatisch weg, heilt nicht von allein, nur weil wir jetzt nicht mehr trinken. Wenn es in einem Haus brennt, genügt es nicht, das Feuer zu löschen. Wenn die Flammen erstickt sind, ist das Haus noch nicht wieder bewohnbar. So ist das auch mit unserer Sucht. Wenn wir den Alkohol weglassen, lodert zwar in uns nicht mehr die Sucht, aber es sieht wie nach einer Feuersbrunst in uns doch ziemlich wüst aus. 

Das wissen wir spätestens seit der umfassenden Inventur, die uns der Vierte Schritt empfohlen hat. Noch deutlicher ist uns das geworden, als wir in Vollzug des Fünften Schrittes darüber mit jemand anderem gesprochen haben. Auch dem Gott, der Großes an uns getan hat, indem er uns die Chance des Aufhörenkönnens vermittelt hat, haben wir im Fünften Schritt unsere Fehlhaltungen offen zugegeben. Mit ihm, dem Gott, so wie ihn jeder einzelne von uns für sich versteht, und mit den Vertrauenspersonen des Fünften Schrittes aber haben und konnten wir nur über die uns bewusst gewordenen Fehler reden. 

Was aber ist mit all dem, was sich tief im Unterbewusstsein eingeschlichen hat? Erschrecken wir nicht manchmal, wenn da wieder etwas auftaucht und uns zu schaffen macht, was uns bisher noch gar nicht so deutlich bewusst geworden war? Manche solcher Fehlhaltungen haben ihre Wurzeln in der frühen Kindheit. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Hang zur Überheblichkeit, etwas Besseres sein zu wollen als die anderen, mag daher rühren, dass man dazu erzogen worden ist, in der Schule besser zu sein als die anderen. Viele solcher frühen Prägungen haben sich in uns festgesetzt und offenbaren sich später als intolerante Vorurteile oder egoistische Verhaltensweisen. Nur ein Bruchteil von all dem aber wird uns bewusst. Manches nehmen wir einfach als gegeben hin, und meinen entschuldigend, dass es zu unserer Wesensart gehört. Unser gesamtes Verhalten, im Positiven wie im Negativen, ist einem Eisberg vergleichbar, von dem man bekanntermaßen nur ein Siebentel an der Oberfläche sieht. Nur ein solcher Bruchteil unseres Wesens, auch unserer Fehlhaltungen, ist uns bewusst, das heißt, wird von uns gedanklich erfasst. Der Rest, der größere Teil unseres Ichs und Seins, vollzieht sich im Unterbewusstsein und damit im schwer beeinflussbaren Bereich unseres Wesens. Durch Training, durch Nachdenken, durch die im zehnten Schritt empfohlene, fortgesetzte, kontrollierende Inventur kann man einiges aus dem Unterbewusstsein in gedanklich fassbare Bereiche hervorheben, aber sicherlich nicht alles. 

An dieser Stelle setzt nun die Empfehlung des Sechsten Schrittes ein. Er legt uns nahe, uns der Hilfe des Partners zu bedienen, den wir im Dritten Schritt in unser Leben hineingenommen haben. Erinnern wir uns ein wenig an den Dritten Schritt. Nach einiger Zeit der uns fortgesetzt glücklicher machenden Abstinenz hatten wir voll Dankbarkeit anerkannt, dass wir dies nicht allein zuwege gebracht hatten. Wir einigten uns auf das gemeinsame Wort "Gott" für das Phänomen, das da so ordnend und uns offenbar liebend in unser Leben eingegriffen hatte. Dabei blieb es jedem von uns überlassen, diesen Gott für sich zu interpretieren. Diesem Gott, so wie wir ihn verstehen, galt Dankbarkeit, er verdiente Vertrauen. 

Nachdem wir im Vierten und Fünften Schritt die dunklen Stellen dieses Lebens durch Inventur und Geständnis deutlicher vor uns sehen, nachdem wir aber auch ganz deutlich spüren, dass wir längst nicht alle verborgenen Fehler aufgedeckt haben, empfiehlt uns der Sechste Schritt ein weiteres: Vorbehaltlos bereit sein sollen wir, heißt es dort. Gemeint ist wieder, dass wir keine Einschränkungen machen, keine Hintertürchen offenlassen. Der als Partner in unser Leben genommene Gott soll unsere Fehler von uns nehmen. Gemeint sind die Fehlhaltungen, die uns deutlich im Bewusstsein sind, aber auch die, die uns überhaupt noch nicht so richtig klar vor Augen stehen. Die Vorbehaltlosigkeit unserer Bereitschaft schließt auch die Fehler ein, die wir eigentlich gern behalten möchten, die wir als kleine Schwächen abtun, die angeblich unseren Charme ausmachen, mit denen wir kokettieren, etwa nach dem Motto "wir sind alle kleine Sünderlein". 

Kein Bittgebet 

Der Sechste Schritt ist kein Bittgebet. Er ist keine Erwachsenen-Formel für den Kindervers: "Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!" Er ist vielmehr eine Forderung, und zwar nicht eine an Gott gestellte Forderung, sondern eine Herausforderung unserer selbst. Wir sollen zuerst etwas tun, nämlich vorbehaltlos bereit sein. Uns wird geraten, Vertrauen zu investieren in denjenigen, der unser ganzes bisheriges Leben, auch das in der schlimmen Zeit der Suchtverstrickung, schützend gelenkt hat.

Unser Weg
Herausgegeben und ©: Anonyme Alkoholiker deutscher Sprache
6. Auflage 28.-32. Tausend
Druck: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH, Heimstetten bei München
Printed in Germany