DER DRITTE SCHRITTDer Dritte Schritt Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden - anzuvertrauen. Um es gleich vorweg zu sagen: dieser Dritte Schritt ist kein Anlass, sich hinzuknien oder im Meeting jetzt langsam, feierlich und getragen zu sprechen. Die Anonymen Alkoholiker haben keine Liturgie. Den Dritten Schritt vollzieht man nicht in feierlicher Pose mit zum Gelübde erhobener Schwurhand vor brennenden Kerzen. Hilfsmittel wie Gebetsteppiche, Weihrauch und Orgelspiel sind in der Tat verzichtbare Krücken bei diesem Schritt. Demjenigen, der hier an religiöse Bezüge anknüpfen kann, mögen Bilder und Symbole eine Brücke sein. Aber auch er muss über diese Brücke selbst gehen und darf sie nicht mit einem Sessellift verwechseln, der ihn - möglichst auch noch zum Nulltarif - über den Fluss trägt. Frohe Botschaft Bei einer nachdenkenden Betrachtung über den 3. Schritt sollte eigentlich auch ein Wort vom Glück am Anfang stehen. Von der Voraussetzung ausgehend, dass derjenige, der sich bis an diese Stelle durchgelesen hat, schon auf einige trockene Tage zurückschauen kann, ist die Annahme gerechtfertigt, dass er sich jetzt schon unvergleichlich wohler fühlt. Nach der Einsicht in die Kraftlosigkeit gegenüber dem Alkohol und der daraus gezogenen und Tag für Tag bewältigten Konsequenz völliger Abstinenz hat die körperliche Wiederherstellung ganz sicherlich schon Fortschritte gemacht. Die zunächst dämmernde und dann klarer werdende Erkenntnis, dass es eine Höhere Kraft gibt und dass diese Höhere Kraft für die Genesung notwendig ist, hat seitdem auch die das Gehirn umlagernden Dunstschleier mehr und mehr aufgerissen. Plötzlich ergreift uns dieses unsagbare Glücksgefühl. Und wenn auch alle Warnungen vor der Gefahr dieser Anfangs-Euphorie berechtigt und ernst zu nehmen sind, so braucht man dieses Glücksgefühl nicht zu unterdrücken. Die Anonymen Alkoholiker sind kein Büßer-Orden. Wir sind nicht mit dem Makel der Unvollkommenheit geprägt und dazu verurteilt, fortan schuldbeladen wie begossene Pudel mit gesenktem Kopf durch die Gegend zu schleichen. Wie wir mit der Bewältigung unseres bisherigen Lebens zurechtkommen, darüber wird bei der Behandlung nachfolgender Schritte noch zu sprechen sein. Hier nur ein Hauch des Optimismus, den A.A.-Freunde nach einiger Zeit der Nüchternheit ausstrahlen; nur angedeutet, die Fröhlichkeit, die in das Leben der meisten von ihnen eingezogen ist., Tatsächlich spürt man schon bald, wie schön es ist, nüchtern zu sein und zu bleiben. Es lohnt sich. So gesehen, ist das, was wir durch die Anonymen Alkoholiker erfahren, im echten Sinne des Wortes eine frohe Botschaft. Aber zurück zum Dritten Schritt, der zunächst kein Gebet, sondern eine geistige Anstrengung, ein Hirnkasten-Training ist. Keine einmalige Frühgymnastik. Man braucht auch ein bisschen mehr Zeit als zum Lottoschein-Ausfüllen, zum Horoskop-Lesen oder anderen Glücks-Anstrengungen dieser Art. Falsche Wege Warum tun sich viele von uns so schwer mit diesem Dritten Schritt? Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie falsch an die Sache herangehen. Da taucht im Programm der A.A. zum ersten Mal das Wort "Gott" auf, und schon meinen wir, das sei aber nun etwas ganz Besonderes. Nachdem dann Freunde erzählen, dass sie auch ihre liebe Not mit diesem Schritt hatten, fühlen wir uns geradezu ermuntert, "die Dinge auf uns zukommen zu lassen", - was natürlich nur eine hochgestochene Redewendung für Passivität, eine Ausrede für unsere Faulheit ist. Der Dritte Schritt nämlich geschieht nicht mit uns, wird nicht von außen an uns herangetragen, wird nicht auf dem Tablett serviert. Wer sich hinhockt und auf Erscheinungen wartet, wappne sich mit Geduld, denn er wird sein Leben lang umsonst warten. Wer mit hehren Augenblicken, mit zuckenden Blitzen und Donnergrollen rechnet, verkalkuliert sich. Der Gott, von dem im Dritten Schritt die Rede ist, offenbart sich nicht in Feuerwerk und Glockengeläut. Es bringt auch nichts, diesem Gott in schlafloser Nacht auflauern zu wollen; auch wenn Du stundenlang in Dich hineinhorchst, wirst Du nichts hören als vielleicht ein Knurren des Magens und Deinen Herzschlag. Hier ist auch nicht von Albernheiten die Rede wie im Bericht über den Wanderverein vom Wettergott, der "schließlich ein Einsehen hatte und es gut meinte". Auch nicht von dem "Ad Du lieber Gott", den wir so leichtfertig in den Mund nehmen Der Dritte Schritt meint nicht den Gott der Kindheitsvorstellungen, der in den Wolken sitzt oder sonst wo in nebulöser Verschwommenheit in Gefühlsduseleien herumgeistert. Aber was dann? wirst Du jetzt fragen, und hier soll versuch! werden, Dir von dem Gott zu sprechen, wie er zu verstehen ist. Hier also Beispiele und Denkanstöße aus der Erfahrung, wie sich ein solcher Prozess entwickeln kann: Dankbarkeit Im Meeting erleben wir immer wieder, dass Freunde in ihren Lebensberichten an die Stelle kommen, wo es für sie selbst unerklärlich wird. Plötzlich stehen sie im Rückblick staunend vor dem Phänomen, dass sie irgendwann mit dem Trinken aufhören konnten. Selbst flüssige Erzähler kommen an dieser Stelle ins Stocken. Sie ringen mit Formulierungen und sprechen schließlich davon, dass bei ihnen plötzlich da Groschen gefallen sei. "Da hat irgendwer den Schalter umgedreht", sagt der Freund im Meeting und unterstreicht das Gesagte, indem er mit der Hand an der Schläfe eine Bewegung macht, als knipse er an einem Lichtschalter. Ein dritter sagt, dass es plötzlich über ihn gekommen sei, und fügt rasch hinzu: "Was, weiß ich nicht, eigentlich kann ich mir das alles bis heute nicht erklären." Irgendetwas ist mit mir passiert, meint ein anderer Freund. Und da haben wir wieder das Schlüsselwort "irgendetwas", das uns schon bei der Betrachtung des Zweiten Schrittes begegnet ist. Wie war's, lieber Freund, wenn Du das Dich so in Staunen versetzende Phänomen Deiner plötzlich einsetzenden Nüchternheit mit der Höheren Kraft in Verbindung brächtest? Das kann Dir doch nicht schwer fallen, wo Du doch im Meeting selbst gesagt hast: "So viel weiß ich ganz sicher, ich selbst habe das nicht zustande gebracht." - Bei einem großen A.A.-Treffen hat ein Freund davon erzählt, dass er einmal über sein Nüchternwerden nachgedacht hat und eigentlich mit tiefer Dankbarkeit erfüllt war. Er hatte -bildlich gesprochen - einen fix und fertig geschriebenen Dankesbrief in der Tasche, zugeklebt und frankiert; aber abschicken konnte er den Brief nicht. "An wen denn? Wem sollte ich danken? Auf dem Briefumschlag fehlte noch die Adresse." Und der Freund erzählte weiter, dass er in diesem Augenblick seinen Stolz aufgegeben und sich entschlossen hat, denjenigen, dem er zu danken bereit war, fortan Gott zu nennen. Der Gott, so wie ihn der Dritte Schritte meint, ist ein Gott der Realität, die in extrem schwieriger Situation in unser Leben getreten ist und ihm eine andere Wendung gegeben hat. Das hat nichts mit irgendwelchen schummerigen Gefühlen auf der linken oberen Seite des Brustkorbes zu tun, das ist ein greifbares Erlebnis. Aha-Erlebnis Und weil hier nicht graue Theorie erörtert wird, noch einmal der Hinweis, dass man im Verlauf seines Denkprozesses ganz deutlich spürt, wenn man an dieser Stelle ankommt. Dieses geistige Aha-Erlebnis ist so deutlich und befreiend, wie wenn einem nach langem Knobeln der Schlüssel zur Lösung einer Rechenaufgabe einfällt. Es ist so, wie wenn einem plötzlich ein Name einfällt, nach dem man verzweifelt gesucht hat. Wir alle kennen solche Situationen, wenn einem jemand gegenübersteht, den man kennt, auf dessen Name man aber im Augenblick nicht kommt. Man wird nervös und unruhig, und fühlt sich plötzlich froh und erleichtert, wenn einem der Name plötzlich einer hinteren Ecke des Hirnkastens ins Bewusstsein und damit auf die Zunge kommt. So real wie jener, der nun von einem Augenblick zum anderen plötzlich mitsamt seinem Namen Meier vor uns steht, so spürbar und greifbar ist uns dann die Gewissheit, dass das Lösungswort für unser Leben Gott heißt. Dabei braucht jetzt nicht über Namen diskutiert zu werden. Wer das Wort Gott nicht mag, kann auch weiter von der Höheren Kraft sprechen. Er kann auch bei seinem "Mister X" bleiben, wie es ein anderer A.A.-Freund ausdrückt. Den Namen kann sich jeder selbst aussuchen. Es erleichtert halt nur ungemein die Verständigung, wenn zwei Leute, die sich über denselben Gegenstand unterhalten, für diesen auch denselben Ausdruck verwenden. Jedenfalls ist das Eintreten, das Eingreifen Gottes in unser Leben eine Begegnung von Lebensentscheidender Bedeutung, vergleichbar in etwa mit der Bedeutung, die Du dem ersten Zusammentreffen mit Deinem späteren Lebenspartner beimisst. Eine solche Begegnung mit dem Gott, wie er Ihn verstand, wird in der Bibel von einem gewissen Saul zu Tarsos geschildert. Er war bis dahin gegen diesen neumodischen Galiläer aufgetreten, der von sich behauptete, er habe ein Rezept für die Befreiung des Judenvolkes. Saulus war politisch und religionsphilosophisch ein Gegner dieser neuen Bewegung und änderte eines Tages seine Ansicht. TJI der bildreichen Sprache des Orients schildert Lukas diesen Sinneswandel im Gleichnis als eine Begegnung, die jenem Saulus auf dem Weg nach Damaskus widerfahren sei. Das hat möglicherweise nicht so stattgefunden, wie es dort geschildert wird. Sicher aber hat sich das im Kopf - und vielleicht nur im Kopf - jenes Saulus' abgespielt, der sieb von da an dann Paulus nannte. Ob wir dies glauben oder nicht spielt hier keine Rolle. Es soll nur als Beispiel angeführt sein, weil wir alle in irgendeiner Form eine solche Damaskus-Stunde des Umdenkens erleben. Abhängigkeit Also nehmen wir an, Du hattest ein solches Erlebnis. Gott ist für Dich zur Gewissheit geworden. Nun steht im Dritten Schritt, dass wir Ihm unserem Willen und unser Leben anvertrauen sollen. Jetzt ist wieder ein unüberwindbares Hindernis auf unseren Weg gestellt. Gerade sind wir aus der einen Abhängigkeit raus, da sollen wir uns in die nächste Abhängigkeit begeben, Gerade jetzt, wo wir anfangen, wieder ein bisschen Selbstvertrauen und Selbstsicherheit aufzubauen. "Ich verlas mich auf gar nichts mehr", hat ein Freund im Meeting gesagt. Er hat gerade einen Rückfall gebaut und sich wieder rausgeschafft. Er ist noch auf der Suche. Im Gespräch über die Schritte zwei und drei sagt er, der Hausarzt und die Psychiatrie sei die Höhere Kraft gewesen, die ihm jetzt geholfen habe. Fortan nehme diese Funktion die Gruppe ein. Und obwohl er "mit dem Gott noch nichts so Richtiges anzufangen weiß", ist er ihm wahrscheinlich - ohne es noch selbst zu wissen - schon ganz nahe. Solche Nähe ist keine neue Abhängigkeit. Sie ist frei gewählte Partnerschaft. So wie der Handwerksmeister, dessen Firma expandiert, sich einen Kaufmann als Kompagnon ins Geschäft nimmt, weil er selbst von Buchführung und all diesem Kram nicht viel versteht. Für alles im Leben, was wir nicht selbst können, nehmen wir die Hilfe anderer in Anspruch, ohne uns deshalb rundum abhängig zu fühlen. Natürlich sind wir beispielsweise vom Elektrizitätswerk abhängig, das uns den Strom ins Haus liefert. Aber macht uns diese "Abhängigkeit" nicht frei, an dunklen Abenden zu lesen, fernzusehen, zu basteln oder sonst etwas Schönes zu tun, was wir ohne Elektrizität nicht oder nur sehr viel schwieriger bewerkstelligen könnten? Partnerschaft Wenn wir unseren Willen und unser Leben Gott anvertrauen, so heißt das nicht, dass wir nun die Hände in den Schoß legen und sagen können: Nun mach Du mal. Der Partner, mit dem Du ein Kompagnon-Geschäft eingehst, wird nicht mitmachen, wenn Du fortan nur noch Spazierengehen willst. In der Partnerschaft mit Gott heißt das, dass wir ihm die Oberleitung überlassen, dass er die Regie-Anweisungen gibt. Er ist der Trainer, der uns vor dem Spiel und in der Halbzeit Anleitungen gibt: Auf dem Spielfeld sind wir allein, die Tore schießt nicht der Trainer. Wenn wir unseren Willen in seine Hände geben, dann bedeutet dies doch, dass wir nicht mehr unseren eigenen Willen um jeden Preis durchsetzen wollen. Das heißt nicht, dass wir keinen eigenen Willen und keine eigene Verantwortung mehr haben. Aber im Vertrauen darauf, dass derjenige, der uns am Tiefpunkt aufgelesen und aus der Not geführt hat, es auch weiterhin gut mit uns meint, überlassen wir ihm die Kommandobrücke. Dabei wissen wir, dass der Kapitän zwar die Richtung bestimmt, dass aber auf dem Schiff dann immer noch für die ganze Mannschaft eine Menge Arbeit bleibt. Die Abhängigkeit vom Alkohol war grausam, demütigend, entwürdigend. Sie hat uns zu großsprecherischen Lügnern, polternden Krakeelern gemacht und in Unmündigkeit zurückgeworfen. Die freigewählte Partnerschaft des Dritten Schrittes ist genau das Gegenteil davon. Nachdem wir gemerkt haben, dass wir so tolle Kerle gar nicht sind, seit wir wissen, dass wir allein nicht aus diesem Sumpf herausgekommen sind, ist es geradezu eine logische Konsequenz, dass wir mit diesem neuen Kumpel weiter das Rennen machen. Und weil er es besser kann, lassen wir ihn ans Steuer und begnügen uns mit dem Beifahrersitz (und der ist, wie Motorsportkenner wissen, kein Schlafplatz). "Wir haben uns entschlossen", heißt es im Dritten Schritt. Nehmen wir diesen Satz doch einmal beim Wort. Entschlossen: da steckt doch drin, dass bis dahin in uns irgendetwas verriegelt und vernagelt war. Also auf mit diesem Schloss vor dem Herzen, weg mit dem Brett vor dem Kopf! Wenn wir uns öffnen und bereit sind, vollziehen sich Denkprozesse, wie sie der Dritte Schritt fordert, viel leichter. Bereitwillig sein heißt, bereit und willig sein. Wozu aber? Unser Leben und unseren Willen sollen wir dem anvertrauen, was wir als Kraft erkannt haben, die größer ist als wir, demjenigen, den wir als Gott unserer Erfahrung und unseres persönlichen Erlebnisses jetzt verstehen gelernt haben.
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