DER ZWEITE SCHRITTDer Zweite Schritt Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Kraft, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann. Dieses Kapitel ist nicht zum Überblättern bestimmt. So einfach dürfen wir es uns nicht machen. Es führt nämlich nicht weiter, wenn wir um die unbequemen Schritte im A.A.-Programm einen Bogen machen und jetzt gleich beispielsweise auf den Vierten Schritt hüpfen, nur weil darin nicht von Höherer Kraft oder ähnlichem die Rede ist. Manche Alkoholiker und gelegentlich auch A.A.-Gruppen möchten um diesen Themenbereich einen Bogen machen. Sie meinen, die gesamte Ausrichtung des A.A.-Programms auf eine höhere Kraft sei ein überkommenes Relikt, es sei unmodern, dies in die Diskussion einzubeziehen. Außerdem schrecke man mit solcherart von Themen höchstens Neulinge ab. Dieses Sichherumdrücken ist völlig überflüssig, wie man bei einigem Nachdenken feststellen wird. Aber wie gesagt: bei einigem Nachdenken. Dazu aber müssen wir uns aufraffen. Ein Arbeitsprogramm Mit dem Zweiten Schritt nämlich wird aus den Empfehlungen der Anonymen Alkoholiker ein Arbeitsprogramm. Der Erste Schritt ist uns zwar auch nicht leichtgefallen, aber er wurde uns quasi aufgezwungen. Am Tiefpunkt eines verkorksten Lebens hatte uns die Verstrickung in die Sucht praktisch die Atemluft abgeschnürt. Den meisten von uns blieb gar nichts anderes übrig, als die Kraftlosigkeit gegenüber dem Alkohol zuzugeben. Wer immer wieder besinnungslos im Boxring liegend ausgezählt wird, kann zwar dennoch behaupten, er sei stärker als sein Gegner; bald wird ihm das niemand mehr glauben. Irgendwann, wenn er von den Schlägen des Gegners gekennzeichnet ist, wird er selbst zugeben müssen, dass der andere stärker ist. Wir haben also zugegeben, was im Ersten Schritt steht. Wir haben uns dagegen aufgebäumt, aber schließlich waren die Argumente der Gegenseite so stark und so schmerzlich, dass wir zum Eingeständnis eigener Ohnmacht gezwungen und damit auch bereit waren, unsere Niederlage zuzugeben. Das reicht ja dann wohl auch, - dachten viele von uns. Man plante den wöchentlichen Meetingsbesuch ein, ließ sich Pantoffeln und die Limonade bringen und lehnte sich zufrieden in den Fernseh-Sessel. Leider - und viele sagen später Gott sei Dank - ist es nicht so einfach. Mit dieser Art, den Ersten Schritt zu vollziehen und es dabei bewenden zu lassen, kann man möglicherweise für den Augenblick aufhören zu trinken; so aber kann man nicht trocken bleiben, geschweige denn nüchtern werden. Erinnern wir uns an den Schlusssatz des vorausgegangenen Kapitels. Das Eingeständnis unserer Kraftlosigkeit hat uns im Elend am Boden liegend getroffen. Dort aber konnten wir so nicht liegen blieben, weder mit, noch ohne Alkohol. "Irgendetwas" Erinnern wir uns auch, was wir in dieser Situation gesprochen haben, wie sich die Niederlage verbal artikuliert hatte: "Ich kann nicht mehr; so geht es nicht weiter; ich will, ich darf nicht mehr trinken; das halte ich nicht mehr durch; irgendwas muss jetzt geschehen." Dieses verschwommene "Irgendetwas" ist das Stichwort, das Schlüsselwort zum Zweiten Schritt. In absoluter Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit stammeln wir "irgendetwas" und sind bereit, jeden und jedes anzunehmen, was uns aus diesem Sog herauszieht. "Machen Sie mit mir, was Sie wollen, schicken Sie mich von mir aus nach Sibirien oder sonst wohin; nur helfen Sie mir!" - So ein Freund in verzweifelter Stunde bei seinem Hausarzt. Für viele von uns war dieses "Irgendetwas" die Notiz in der Zeitung, die Fernsehsendung oder ein anderer Hinweis auf die Anonymen Alkoholiker. In der Begegnung mit diesen nüchternen, sachlichen, leidenschaftslosen Extrinken wurde für uns trostreich zur Gewissheit, mit diesem Problem nicht allein dazustehen. Sehr bald wurde uns aber auch - zunächst enttäuschend - klar, dass diese Gruppe abgehärmter Trinker mit der Erfahrung der Nüchternheit kein Patentrezept gegen Alkoholkonsum zu verteilen hatte. Da gab es Nüchternheit nicht als Geschenk. Da wurde von Nüchternheit als dem Ergebnis eines Entwicklungs-Prozesses berichtet, da wurde sie als Aufgabe und Arbeitsauftrag geschildert. Da wurden wir eingeladen, mitzudenken, an uns zu arbeiten, Inventur zu machen, Fehler einzugestehen und uns für die Sache zu engagieren. Einwände Das mit dem Engagieren ging ja noch. So ein bisschen Rumwurschteln und Vereinsmeierei, das lag uns noch von der Trinkerzeit her. Aber Nachdenken? - Das war schon ziemlich viel verlangt. Und dann kamen die gleich mit solchen Hämmern: "Kraft - größer als ich selbst" und so. "Wo gibt's denn so was? Scheint doch ein versteckter religiöser Haufen zu sein! Was brauche ich den lieben Gott, habe ich ihn zum Trinken nicht gebraucht, werde ich es auch ohne ihn lassen können. Was hat denn dieser Gott überhaupt mit meiner Krankheit zu tun, wo es den doch überhaupt nicht gibt! War schon seit der Konfirmation nicht mehr in der Kirche, bin ausgetreten, und dann kommen die mir mit so was..." Also mit mir nicht - sagten wir zu Anfang. Und als dann Leute, die länger dabei waren, meinten, bei ihnen sei das zu Anfang genau so gewesen, inzwischen seien sie fromm und gläubig, da ging uns das erst recht über die Hutschnur. "Aha", sagten wir, "so ist das: Bekehrung durch die Hintertür, tröpfchenweise und auf Raten". - Nee, mit mir nicht. Und von wegen geistiges Programm, - wenn ich das schon höre, dann kann ich ja auch gleich zum Pfarrer gehen. Ausreden lassen, ruhig ausreden lassen, und dann den Neuling zurück zum Thema holen. Wir reden über den Zweiten Schritt. Darin steht nichts von Religion, auch das Wort Gott kommt nicht vor. Wohl aber die "Kraft, größer als wir selbst". Und das ist gar nicht so problematisch. Bisher war der Alkohol die Kraft, die größer und stärker war als ich selbst. Um den Alkohol aus meinem Leben zu verbannen, brauche ich Kraft, die ich allein nicht aufbringen kann. Da weiß ich aus bitterer Erfahrung. Ich brauche also "irgendetwas", das stärker ist als ich. So einfach ist das mit dem Zweiten Schritt. Größer als wir selbst Stärker als ich ist wahrscheinlich die Gruppe, denn dort sind einige, die es geschafft haben. Diese Ansammlung von Schwächlingen, von denen jeder einzelne auch nicht mit dem Alkohol fertig geworden ist, hat im Zusammenstehen offensichtlich so viel Kraft entwickelt, dass sie sogar anderen weiterhelfen kann. Das ist also schon eine Kraft größer als ich selbst. Und wenn nun in einem Meeting über den Zweiten Schritt manche für diese Kraft den Namen Gott einsetzen, dann ist das deren Sache. Niemand verlangt das von Dir; wie überhaupt niemand bei A.A. etwas von Dir verlangt. Weil aber das Wort Gott nun schon einmal gefallen ist, hier nur ganz wenig zu diesem Thema (mehr wird darüber bei anderen Schritten zu sagen sein). Der Gott, von dem der Nachbar beim Meeting spricht und schwärmt, weil er ihm geholfen hat, hilft Dir nicht weiter. Dein Nachbar nämlich spricht von seiner persönlichen Erfahrung mit einer Höheren Kraft, um die er sich bemüht hat. Diese Begegnung mit demjenigen, den er nun Gott nennt, hat er nur für sich gemacht. Er kann Dir davon erzählen, dass diese Begegnung in den Dünen der holländischen Küste oder auf einer Bergwanderung, vor einer Telefonzelle oder beim Kartoffelschälen stattgefunden hat, das hilft Dir im Prinzip nicht weiter. Auch wenn Du fortan tonnenweise Kartoffeln schälst, würde Deine Einsicht nicht wachsen, wenn Du dabei nicht das Radio ab- und den Denkapparat einschaltest. In Zweifelsfällen hilft nachdenken. Das hat schon der Lehrerin der Schule gesagt. Hier wie in vielen anderen Bereichenhaben wir Nachholbedarf, weil wir in der Saufzeit selten und dann meist nicht mit klarem Kopf nachgedacht haben. Und wenn im nunmehr klaren Kopf plötzlich zu viele Gedanken sich durcheinander drängen, dann hilft es, ein leeres Stück Papier vor sich zu legen und die Gedanken ein bisschen zu notieren. Das machen auch größere Denker so. Für uns Wieder-Anfänger könnte das Nachdenken über den Zweiten Schritt im A.A.-Programm da einsetzen, wo wir aufhören, uns als die Größten einzuschätzen. Schon das Eingeständnis, in der Saufzeit ganz schön viel Mist gebaut zu haben, ist ein solcher Denkansatz. Und dann zugeben, dass es Leute gibt, die schöner, größer, klüger, erfolgreicher sind, die mehr können und mehr wissen. Dann kommt der Punkt, an dem so etwas wach wird wie Demut in uns; Demut aber nicht in dem Sinn von Unterwürfigkeit im Jute-Sack des Büßers. Vielleicht bringt es uns auf den Weg, wenn wir erst einmal aufhören, unsere Kollegen im Betrieb durch die Bank für Blödmänner, Radfahrer und hergelaufene Nichtskönner zu halten. Vielleicht bringt uns der Gedanke daran, dass die Kollegen uns über Jahre hin gedeckt und unser Besoffensein vertuscht haben, der Demut näher. Einer Demut, die auch den Gedanken zu Dankbarkeit hin öffnet. Kurz gesagt: Absteigen, runter vom hohen Ross, einreihen in das Heer der Alltagsmenschen, aufhören, sich als Sonderfall einzuschätzen. Das Letztgesagte gilt auch für Dich und Dein Verhältnis zur Gruppe. War es zunächst ein Trost, zu erfahren, dass andere das gleiche Problem haben wie Du, so bleibt diese Erfahrung nicht ohne Dich hart fordernde Konsequenz. Wenn die anderen in der Gruppe nämlich von sich alle mit Überzeugung sagen, sie seien Alkoholiker, dann gilt das, der Du dieselben Symptome hattest, auch für Dich. Dann sag auch: Ich bin Alkoholiker. Aber sag es ohne den gedachten Nebensatz, der mit "aber" beginnt. Mach an das Wort Alkoholiker für Dich kein Sternchen, um in einer Fußnote den Sonderfall zu erklären und zu sagen, es sei bei Dir immerhin so schlimm ja noch nicht gewesen. Also Alkoholiker ohne Einschränkung. Wir haben zugegeben, Alkoholiker zu sein wie die anderen, eingereiht in die Phalanx der Schwächlinge, die alle ihre Ohnmacht zugegeben haben und gemeinsam daraus Stärke entwickeln. Geistige Gesundheit Das ist also eine Kraft, größer als Du selbst. Jetzt fehlt nur noch die Überzeugung, dass diese Kraft fähig ist, bei der Wiedererlangung geistiger Gesundheit hilfreich zu sein. Wieder wird sich der Zweifler zu Wort melden: "Was heißt hier geistige Gesundheit? Seit ich nicht mehr saufe, brauche ich morgens nicht mehr zu kotzen. Ich zittere nicht mehr so sehr, ich kann morgens aufstehen. Ich habe meine Körperfunktionen wieder unter Kontrolle. Bei der Arbeit läuft es auch wieder. Gestern hat mich mein Chef sogar gelobt. Der Lebertest ist auch wieder halbwegs in Ordnung. Und meine Frau hat die Scheidungsklage zurückgenommen." Das ist freilich schon eine ganze Menge positiver Aspekte, die der neue Freund ins Feld führen kann. Aber das Lügen beispielsweise, das vielleicht über Jahre zur täglichen Routine geworden war, geht nicht so schnell weg wie der Durchfall. Da muss man sich schon über lange Zeit beobachten, dabei ertappen, wie man aus Leichtfertigkeit, aus Angeberei, aus Gewohnheit schnell mal ein bisschen übertreibt, ein bisschen beschönigt und sich selbst in ein besseres Licht rückt. Wenn man sich das, was sich früher automatisch im Unterbewusstsein abgespielt hat, ins Bewusstsein holt, dann ist man auf dem Weg, auf einem Feld das Unkraut auszujäten. Hier wäre ein Ansatz zu geistiger Gesundung. Aber die Sache mit Lüge und Wahrheit ist nur ein kleiner Teilaspekt all dessen, was in unserem Inneren nicht mehr in Ordnung ist. Da ist dann noch die Sache mit dem Egoismus und dem schwierigen Lernvorgang, an dessen Ziel die Fähigkeit steht, sich selbst an die zweite Stelle zu rücken. Wenn man das im Zusammenleben mit dem Partner schafft, nennt man dies auch Liebe. Großmäuligkeit, Jähzorn, Rechthaberei, Intoleranz - die Aufzählung all dessen, woran zu arbeiten ist, ließe sich fortsetzen. Weil aber der Abbau dieses Schuttberges von Fehlhaltungen Voraussetzung für eine dauerhafte Nüchternheit ist, müssen wir uns hier ans Werk machen. Glaubt jemand, dass er das alles allein schafft? - Nein; deshalb gelangten wir in Erkenntnis der über das eigentliche Alkoholproblem hinausgehenden Kraftlosigkeit zu der Überzeugung, dass nur eine Kraft, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann. Unser Weg
Unser Weg Zur Verfügung gestellt: AA-One
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