DER ZWÖLFTE SCHRITT


Der Zwölfte Schritt

Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.

Zusammenfassung und Auftrag ist der Zwölfte Schritt im Programm der Anonymen Alkoholiker. Er ist neben dem Ersten Schritt der Punkt unseres Programms, der uns am geläufigsten ist, weil darüber auch in der Gruppe relativ häufig gesprochen wird.

Manche Anonymen Alkoholiker kennen auch nur diese beiden Schritte: den Ersten, mit dem sie zu trinken aufgehört, und den Zwölften, nach dessen Auftrag sie dann unmittelbar tätig werden. Die amerikanischen A.A.-Freunde nennen diese Übereifrigen "Two-Steppers", was gar nicht geringschätzig und abwertend gemeint ist. Wissen wir doch aus Erfahrung, dass wir mehr oder weniger alle in unserer Anfangszeit mit diesem Zweigang-Getriebe gefahren sind.

Two-Steppers

Damit aber sind wir schon mitten in einer der Diskussionen, die um den Zwölften Schritt so gern geführt werden. Damit aber stecken wir auch schon mitten in dem verbreiteten Fehler, der dadurch entsteht, dass nur ein Halbsatz aus dieser Empfehlung herausgegriffen und gleichsam unbefugt als Auftrag verselbständigt wird. Aber bleiben wir einen Augenblick bei der Lesart des Zwölften Schrittes, die nur das Weitergeben der Botschaft im Sinn hat. Bleiben wir auch bei den "Two-Steppers" und der Meeting-Diskussion, ab wann jemand im Zwölften Schritt aktiv werden kann.

Wenn wir mit der Sturheit von Schriftgelehrten und Wortklaubern an diese Frage gehen, dann darf die Tätigkeit im Zwölften Schritt erst einsetzen, "nachdem" wir die anderen Schritte erarbeitet haben und unser Leben danach ausrichten. Diese Empfehlung macht "ein geistiges Erwachen" durch die vorausgegangenen Schritte zur Voraussetzung des Bemühens um andere Alkoholiker.

Lebensaufgabe

Wir sollten uns aber nicht mit juristischer Spitzfindigkeit an den Wortlaut einer Empfehlung klammem, sondern unser Handeln nach deren Sinn ausrichten. Würden wir nämlich mit dem Weitergeben der Botschaft tatsächlich alle warten, bis wir die vorausgestellten elf anderen Schritte vollständig zurückgelegt haben, dann kämen wir nie dazu, im Zwölften Schritt etwas zu tun. Die elf anderen Schritte nämlich sind - ebenso wie der Zwölfte - ein Auftrag für das ganze Leben. Hundertprozentig wird damit niemand fertig. Hätten also Bill und Bob mit dem Weitergeben der Botschaft gewartet, bis sie durch weiteres Bemühen um Vollkommenheit ihr "geistiges Erwachen" erlebt hatten, dann gäbe es heute wahrscheinlich überhaupt nicht die weltumspannende Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker. Nein, diese beiden Gründer der Gemeinschaft haben sich unmittelbar nach ihrer Begegnung in Acron einen dritten und einen vierten Alkoholiker gesucht. Dabei war ihr Motiv nicht in erster Linie missionarisch. Sie brauchten andere Alkoholiker zum Durchhalten in ihrem Vorsatz, nicht mehr zu trinken. Demnach waren also auch Bill und Bob "Two-Steppers", was für Dich, lieber neuer Freund, ein gutes Argument ist, wenn Dir irgendein staubtrockener Alt-A.A. ungerechtfertigt vorschreiben will, was Du zu tun oder zu lassen hättest.

Wir alle sind von der ersten halben Stunde an, die wir bewusst auf das Trinken von Alkohol verzichtet haben, ununterbrochen im Zwölften Schritt tätig. Und sei es nur durch unser Beispiel. Jeder Alkoholiker, der nicht trinkt, kann für den noch leidenden Alkoholiker eine Hilfe sein, wobei die Dauer der Nüchternheit auf Seiten des Helfenden zunächst von untergeordneter Bedeutung ist.

Vielleicht wird das an einem Beispiel deutlich: In tiefdunkler Nacht ist der Nachtblinde völlig hilflos. Er lässt sich aber bereitwillig bei der Hand nehmen von jemandem, der nur ein ganz klein wenig, nur einen schwachen Schimmer mehr sieht als er.

Die im Meeting als Argument ausgespielte Karte: "Wie kann ein Blinder einen Blinden führen?" sticht nicht. Der Alkoholiker, der auch nur ein einziges A.A.-Meeting besucht hat und seitdem nicht mehr trinkt, ist mit dieser einzigen Stunde des Nichttrinkens schon nicht mehr ganz so blind wie derjenige, der noch voll drin steckt. Und wenn er seinem Zechkumpan vom Nachmittag am Abend auf dem Nachhauseweg vom Meeting nur erzählt, wo er war, dann hat er schon zum ersten Mal etwas im Zwölften Schritt getan.

Zwölf Stufen

Damit sind wir bei diesen Denkanstößen über das unerschöpfliche Kapitel zwölf im A.A.-Programm auch bei der Frage, wie man im Zwölften Schritt wirken kann. Damit aber nähern wir uns auch gleichsam auf einem Umweg der Gesamt-Empfehlung dieses Schrittes. Gemeint ist, dass jeder immer nur so viel geben kann, wie er hat. Wenn der Fleischer in seinem Laden am Samstagabend nichts mehr vorrätig hat als ein Pfund Schweinefleisch, kann er Dir beim besten Willen kein Kilogramm verkaufen. So kann der neue A.A.-Freund nicht allein ins A.A.-Klinik-Meeting, weil er auf die dort gestellten Fragen von vielleicht zwanzig Alkoholikern selbstverständlich noch keine Antworten parat hat. Aber er kann seinem Kumpel am Arbeitsplatz, der auch ein Alkoholproblem hat, erzählen, dass er durch die Begegnung mit den Anonymen Alkoholikern einen Hoffnungsschimmer in seinem bis dahin verzweifelten Anrennen gegen die Sucht sieht. Das ist Zwölfter Schritt, denn unsere zwölf Schritte heißen in der Originalsprache, in der sie zuerst aufgeschrieben worden sind, "twelve Steps", was treffender übersetzt wäre mit "zwölf Stufen". Und so wie wir uns durch das A.A.-Programm stufenweise aufwärts bewegen, so wird stufenweise auch unser Wirken im Zwölften Schritt durch das Vorleben des Programms überzeugender.

Vielleicht rühren manche Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten über den Zwölften Schritt einfach daher, dass sich viele unter dem "geistigen Erwachen" etwas Falsches vorstellen. Dieses geistig-seelische Erwachen ist jedenfalls kein Augenblicksereignis, kein Erwachen wie morgens beim Klingeln des Weckers. Das ist ein langsam sich entwickelnder Prozess, ein nie endendes Abenteuer.

Dieses geistige Erwachen geschieht nicht so, wie ein dunkler Raum durch einen Knopfdruck in gleißendes Licht gehüllt wird. Wenn schon ein Vergleich mit dem Bild des Lichtes, dann ist es wohl eher so, dass wir durch unser Programm eine Lampe in die Hand bekommen, mit der wir immer neue Felder unseres Ichs ausleuchten können.

Diese Taschenlampe ist uns nicht nur zum Ausleuchten unseres eigenen Lebensweges in die Hand gegeben. Das meint der Zwölfte Schritt, der die breitere Darlegung des Präambelsatzes ist, wonach es Hauptzweck unserer Gemeinschaft ist, nüchtern zu bleiben und anderen Alkoholikern zur Nüchternheit zu verhelfen. Diese beiden Aufgaben stehen ranggleich nebeneinander. Und wenn man nach dem Sinn und Ursprung unserer Gemeinschaft forscht, wenn man erstaunt vor ihrem Wachstum steht, dann könnte man zur Erklärung ein Wort dieses Präambelsatzes austauschen. "Unser Hauptzweck ist, nüchtern zu bleiben, i n d e m wir anderen Alkoholikern zur Nüchternheit verhelfen."

Im Gegensatz zu gelegentlich in Meetings geäußerten Meinungen, gibt es bei A.A. keinerlei Rezepte und Empfehlungen, wie jemand diesen Auftrag des Zwölften Schrittes anzupacken habe. Hier soll Ansichten widersprochen sein, die etwa so klingen: "A.A. geht nicht zu jemanden, A.A. hilft nur, wenn nach Hilfe gerufen wird; A.A. macht dieses, A.A. macht jenes nicht." Eigentlich ist es verwunderlich, woher diejenigen, die so etwas sagen, ihre Weisheit schöpfen.

Keine Bedingungen

Nirgends ist derartiges festgelegt. Wenn im Gruppengespräch über den Zwölften Schritt gesprochen wird, so kann jeder nur seine Erfahrungen beisteuern. Dabei mag eine Meinung geäußert werden, dass dies oder jenes zweckmäßig, dass anderes wenig sinnvoll ist im Bemühen um andere Alkoholiker. Aber Vorschriften sind dies alles nicht.

Die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker hat nämlich keine Aufnahmebedingungen. Der Zwölfte Schritt sagt nichts aus über die Alkoholiker, denen wir die Botschaft weitergeben sollten. Es steht nicht einmal dabei, ob es sich um nasse oder trockene Alkoholiker handelt. Auch von dem Grad der jeweils vorhandenen oder nicht vorhandenen Therapie-Willigkeit ist nicht die Rede.

Langzeit-Wirkung

In der Praxis sieht doch das auch so aus, dass beispielsweise bei einer Information in der Klinik die Alkoholiker-Patienten nicht entsprechend sortiert sind. "Anderen Alkoholikern helfen", heißt es in der Präambel. Diese Hilfe kann auch in der Langzeit-Wirkung einer Information bestehen: der betroffene Alkoholiker wird sich vielleicht viel später erinnern an das, was Du ihm irgendwann einmal von A.A. erzählt hast. Dann möglicherweise," wenn in ihm der Wunsch aufdämmert, mit dem Trinken aufzuhören. Eine Früh-Information kann das schaffen, was nach unserer Präambel die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu unserer Gemeinschaft ist.

Seitenweise könnten jetzt hier Anregungen angefügt werden, wie man die A.A.-Botschaft weitertragen kann und wie man dabei am zweckmäßigsten zu Werke geht. Der Erfahrungs-Austausch darüber soll Gruppengesprächen und anderen Schriften aus dem A.A.-Literatur-Angebot überlassen bleiben. Hier nur einige wenige Gedanken:

Nüchtern werden und bleiben ist die Hauptsache im Zwölften Schritt. Wenn Du, von dem mehr oder weniger viele Leute in der Trinkerzeit Bescheid wussten, nun ein nüchternes Leben vorlebst, dann ist dies das Beste, was Du im Zwölften Schritt tun kannst. Wer darüber hinaus den Mut aufbringt, sich auf entsprechende Fragen bei passender Gelegenheit als Alkoholiker oder gar als "Anonymer Alkoholiker" zu bekennen, der tut viel im Zwölften Schritt und für die noch leidenden, von der Gesellschaft diskriminierten Alkoholiker.

Manche unserer A.A.-Freunde haben ein permanent schlechtes Gewissen, weil sie meinen, nicht genug im Sinne des Zwölften Schrittes zu tun. Sie seien daran erinnert, dass dieser Programmpunkt beinhaltet, dass wir nach unseren Schritten leben sollten. Wer das tut, wer im Programm lebt, ist für sich und durch sein Beispiel für andere im Sinne des Zwölften Schrittes tätig. Im übrigen sei hier nur angedeutet, dass die Teilnahme am Meeting, die Übernahme selbst kleiner Verantwortungen, dass der Beitrag für die Hutsammlung, dass alles, was der A.A.-Gemeinschaft dient, Aktivität im Sinne des Zwölften Schrittes ist. Dieser Zwölfte Schritt besteht nicht, wie es zunächst den Anschein hat, aus zwei Teilen: einmal in der Übernahme des Programms für das eigene Leben, zum anderen im Weitertragen der Botschaft. Sinn dieser Erläuterungen ist, deutlich zu machen, dass diese beiden Aufgabenfelder des Zwölften Schrittes eine Einheit sind. Nur der kann überzeugend "anderen zur Genesung vom Alkoholismus verhelfen", der sein "tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten" bereit ist.

Der so vollzogene Zwölfte Schritt mit der Bereitschaft, nach dem A.A.-Programm zu leben, nimmt uns in die Gemeinschaft auf, in der es um viel mehr geht als ums Nichtmehr-Trinken. Wer im Programm lebt und dieses Leben mit seinem früheren vergleicht, für den gibt es an der Gültigkeit dieser Aussage keinen Zweifel.

Am Schluss noch ein Wort an die Verzagten, die immer meinen, sie schafften es nie, im Programm zu leben; sie sollten den Zwölften Schritt genau lesen. Es heißt dort nicht, dass wir nun allein Vollkommenheit und Sanftmut gleichsam mit dem Heiligenschein umherlaufen. "Versuchten wir" nach diesen Grundsätzen zu leben, heißt es im Zwölften Schritt, in dem auch von "Botschaft" die Rede ist.

Wer es verstanden hat, möchte an dieser Stelle lieber von "Froh-Botschaft" sprechen, wobei vielen ein unerschöpflicher Hilfsquell im Streben nach einem Leben in zufriedener Nüchternheit unser Gelassenheitsspruch ist:

Gott gib mir Gelassenheit Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann,
Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit,
den Unterschied zu erkennen. R.Niebuhr


Unser Weg
Herausgegeben und ©: Anonyme Alkoholiker deutscher Sprache
6. Auflage 28.-32. Tausend
Druck: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH, Heimstetten bei München
Printed in Germany