DER ELFTE SCHRITT


Der Elfte Schritt

 

Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott - wie wir Ihn verstanden - zu verbessern. Wir baten Ihn, nur seinen Willen für uns erkennen zu lassen, und um die Kraft, ihn auszuführen.

Die Worthürde des Elften Schrittes ist für viele der Ausdruck "Gebet". So wie uns der Begriff "Demut" vor dem Siebten Schritt zurückschrecken lässt, so versperrt uns das eine Wort "Gebet" den Zugang zum Elften Schritt.

Gebet? - Das ist für die Einen Erinnerung an Kindertage, an aufgesagte Reime vor dem Zubettgehen. Gebet? - Das ist für die anderen so eng mit Begriffen wie Religion, Konfession, mit Kirche und Gottesdienst verbunden, dass sie sich "auf so etwas erst gar nicht einlassen wollen" (Zitat aus einem A.A.-Meeting). Und in der Tat zeigt die Erfahrung, dass sich diejenigen aus der A.A.-Gemeinschaft mit dem Programm schwerer tun, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Ihnen fallen alle Schritte schwer, in denen das Wort "Gott" vorkommt, erst recht aber der elfte, der zudem die Einladung zum Gebet enthält.

Dieser Kommentar - Denkanstoß zum Programm der Anonymen Alkoholiker - ist für alle gedacht, die sich für das A.A.-Lebensprogramm entschieden haben. Er soll vor allem denjenigen eine Hilfe sein, für die der Weg durch das Programm kein Spaziergang ist.

Diejenigen in unserer Gemeinschaft, die nicht religiös erzogen worden sind, die nie einer Religionsgemeinschaft angehört haben, meinen vielleicht, sie brauchten überhaupt keine Gebete. Aus ihrer Sicht heraus sind sie auch ganz sicher, dass sie noch nie gebetet haben. Einige von uns haben zu irgendeinem Zeitpunkt die Verbindung zu ihrer früheren Religion bewusst abgebrochen. Ob nun dieses Abbrechen der Brücke formal durch Kirchenaustritt vollzogen worden ist oder ob die Religionszugehörigkeit nur still eingeschlafen ist, feststeht, dass auch hier der Begriff "Gebet" zum Fremdwort geworden ist.

Bei denjenigen, die die Abkehr von ihrer Kirche bewusst vollzogen haben und deren Argumente für diesen Schritt auch in der Nüchternheit Bestand haben, rührt sich Widerstand, wenn der Elfte Schritt zur Sprache kommt. Vielleicht hat dieser Widerstand seine Ursache in aufkommendem Zweifel an der Richtigkeit des seinerzeit vollzogenen Bruchs. Jedenfalls ist die Befürchtung unbegründet, das im Elften Schritt empfohlene Gebet sei der Versuch einer Bekehrung durch die Hintertür. 

Nicht nur für Kirchentüren

Wenn im Gruppengespräch über den Elften Schritt so argumentiert wird, ist an die Präambel zu erinnern, in der deutlich festgelegt ist, dass die Anonymen Alkoholiker mit keiner Sekte und mit keiner Konfession verbunden sind. A.A. ist auch keine Mafia, kein geheimer Verbündeter irgendeiner religiösen Gemeinschaft, um ihr abtrünnige Schafe wieder in die Herde zu treiben. Wenngleich gesagt werden muss, dass die Beschäftigung mit dem A.A.-Programm den einen oder anderen zur Überprüfung seines Kirchenaustritts veranlasst hat. Das aber spricht doch wohl nicht gegen dieses Programm.

Wenn wir davon ausgehen, dass dieses Programm samt dem Elften Schritt sowohl für den praktizierenden Katholiken wie für den bekennenden Protestanten, für den gläubigen Mohammedaner, für den Anhänger einer Sekte ebenso anwendbar und nützlich ist wie für den Atheisten, dann brauchen wir eine breite Definition des Wortes Gebet. Wir brauchen für das Verständnis dieses Wortes einen Schlüssel, der nicht nur in Kirchentüren passt.

Beten heißt, nach einer uns im Religions-Unterricht in der Schule vermittelten Definition "mit Gott sprechen". Das ist jedenfalls schon eine handlichere Formulierung als diejenige, die beten im Herunterleiern gereimter Verse versteht. Aber da ist auch wieder dieser "Gott" im Elften Schritt, dessen Überlieferer es uns, jedem von uns, anheim stellen, hier den Gott des eigenen Verständnisbegriffs einzusetzen.

Nun könnte man es sich einfach machen und sagen, wer beim Elften Schritt nach zehn vorausgegangenen mit Gott noch nichts anzufangen weiß, wer hier noch keinen Zugang gefunden hat, für den sei dieser Schritt vorerst noch eine

uneinnehmbare Festung. Manchmal geschieht so etwas im Meeting: Man schafft sich den unbequemen Frager bei der Behandlung des Elften Schrittes einfach vom Hals, indem man ihn herablassend auffordert, sich gefälligst erst einmal um vorausgegangene Programmpunkte zu bemühen.

So zu verfahren, ist ziemlich hochmütig, und eigentlich sollte dieser neunmalkluge A.A.-Ratgeber lieber selbst noch einmal vorn im Programm anfangen. Er ist möglicherweise ziemlich rasant durch das Programm geeilt: laut, staubaufwirbelnd, aber ohne dass das Programm bei ihm Spuren hinterlassen hat.

Nein, der Elfte Schritt ist kein Programmpunkt für "Fortgeschrittene". Jeder Schritt im Programm der Anonymen Alkoholiker kann der Eingangs-Schritt sein. So ist es ja auch in der Praxis: Immer mal kommt irgendein Neuer ins Meeting, vielleicht auch einmal in eins, in dem gerade über den Elften Schritt gesprochen wird. Abgesehen vom Ersten Schritt, der wirklich am Anfang unseres neuen Lebens steht, ist nämlich die Reihenfolge der Schritte zwei bis zwölf keine verbindliche Festlegung.

Der Zugang zu Gott, so wie wir ihn verstehen, ist jedenfalls aus einem Nachdenken über den Elften Schritt sehr wohl möglich. Vielleicht aus der simplen Erkenntnis heraus, dass wir eigentlich nie aufgehört hatten zu beten. Oder erinnerst Du Dich nicht mehr an die geschrieenen Hilferufe: Mach, dass ich nicht mehr trinken muss?

Ein Zugang zu Gott ist für viele auch das Überdenken all der schlimmen, oft lebensgefährlichen Situationen, in die wir in unserer und durch unsere Sucht geraten waren.

"Mein Gott, dass ich überhaupt noch lebe", wirft jemand als Nebenbemerkung im Meeting ein. Es ist ihm gar nicht bewusst, dass er mit diesem kurzen Satz mitten im Elften Schritt ist, mitten im Gebet. Dankbar sein, selbst wenn man noch nicht so ganz genau weiß, wem dieser Dank zu gelten hat, dankbar sein ist nichts anderes als beten.

Gebet im Ersten Schritt

Nichts anderes als Beten tun wir seit dem Ersten Schritt: Eigene Kraftlosigkeit einzugestehen heißt, auf die Hilfe einer stärkeren, höheren Kraft hoffen. Wenn diese Hoffnung zur Zuversicht wird (Zweiter Schritt), erwächst daraus Dankbarkeit. Und genauso wie wir nicht nur einmal getrunken haben, werden wir auch nicht nur einmal nüchtern. Beides sind Entwicklungsprozesse, von denen einer in der zur Katastrophe führenden Abwärtskurve verläuft. Wenn Nüchternwerden kein einmaliger Vorgang ist, brauchen wir die Hilfe der Höheren Kraft auch nicht nur punktuell in einem Augenblick unseres Lebens, sondern fortdauernd.

In der zur Sicherheit gewordenen Hoffnung, dass die uns zuteil gewordene Hilfe kein einmaliger Gnadenakt war, bitten wir denjenigen, der auch in der schlimmen Zeit seine schützende Hand über uns gehalten und der uns die Chance zum Neubeginn gegeben hat, dass Er auch künftig am Ruder bleibe. Das war der Dritte Schritt und das war Gebet!

Und wenn wir im Fünften Schritt mit Ihm über unsere Fehler Rücksprache genommen haben, wenn unsere Bereitschaft zur Mängelbeseitigung (6. Schritt) in den Reparaturauftrag (7. Schritt) mündete, dann war das Gebet. Auch als wir den Empfehlungen der Schritte acht und neun folgten und gleichsam in Seinem Auftrag unsere mitmenschlichen Beziehungen ordneten, waren wir mit Ihm in Kontakt und damit eigentlich mitten im Elften Schritt.

Wenn man diesen nämlich genau liest, merkt man, dass hier nichts grundlegend Neues in unser Lebensprogramm aufgenommen ist. "Our contact", wie es im Englischen heißt, unsere Verbindung zu Gott, wie wir ihn verstehen, soll nach der Empfehlung dieses Elften Schrittes verbessert werden. Der Schritt geht demnach davon aus, dass hier schon eine Verbindung vorhanden ist und zwar eine gute Verbindung. Es ist von verbessern die Rede, und "besser" ist die Steigerungsform von gut.

Expedition ins Innere

Zur Kontaktverbesserung - so empfiehlt es der Elfte Schritt - sollen wir uns der Mittel des Gebetes und der Besinnung bedienen. Dazu ist zunächst zu sagen, dass Gebet und Besinnung nicht zwei grundlegend verschiedene Dinge sind. Gebet ist ohne Besinnung kaum möglich; ernsthafte Besinnung kann man durchaus als eine Form des Gebetes bezeichnen.

Aber bleiben wir dennoch ein wenig bei dem Wort Besinnung; nicht weil es ein Modetrend geworden ist, in Yogastellung transzendental zu meditieren. Hier also sozusagen ein wenig Besinnung über das Wort "Besinnung", von der im Elften Schritt die Rede ist.

So wie man zum Atmen Luft braucht, so braucht man zur Besinnung Ruhe. Stille kann man nicht produzieren; aber man kann sie suchen. Es ist auch antrainierbar, sich regelmäßig für eine kurze Zeitspanne aus dem Getriebe zurückzuziehen. "Nur für heute will ich meine ruhige halbe Stunde für mich selbst haben und entspannen. In dieser halben Stunde will ich versuchen, eine bessere Sicht über mein Leben zu gewinnen." So heißt es unter "achtens' auf unserer kleinen Faltkarte mit den Empfehlungen für das "Heute".

Es böte sich an, an dieser Stelle eine langatmige Darlegung über die Bedeutung der Meditation in asiatischen Kulturbereichen einzufügen oder auch etwas über die kontemplativen christlichen Ordensgemeinschaften zu sagen, in denen man sich bei lebenslangem Schweigen nur der Beschaulichkeit hingibt. Dies Angedeutete aber mag genügen. Uns geht es um die im Elften Schritt des A.A.-Programms empfohlene Besinnung, die uns helfen soll, unser neues Leben in Nüchternheit und Fortentwicklung zu bestehen.

Auch dieser Begriff der "Besinnung", der in diesem Schritt erstmals im Programm auftaucht, ist im Prinzip nichts Neues. Vom Ersten Schritt an ist uns Besinnung über unser bisheriges Leben angeraten. Namentlich der Vierte Schritt, der uns die Inventur nahe gelegt hat, ist ein solcher Besinnungs-Schritt. Auch der Zehnte Schritt mit seiner Empfehlung, bewusst zu leben und immer wieder Kontrollpunkte anzusteuern, könnte mit dem Stichwort "Besinnung" gekennzeichnet werden.

Meditation? - Das Wort kommt aus dem Lateinischen; in der Sprachwurzel steckt etwas drin von, "messen, ermessen", im übertragenen Sinn auch das geistige Abmessen, die Standortbestimmung im Innern. Meditation ist also der Versuch, durch Nachdenken sich selbst besser kennen zu lernen. Dazu muss man in Ruhe in sich hineinhorchen. Die Expedition in unser Inneres hat uns schon bei der Inventur des Vierten Schrittes offenbart, dass es da unentdeckte Felder und ungerodete Wildnis gibt. - Wenn uns im Elften Schritt empfohlen wird, durch Besinnung die Verbindung zu Gott zu suchen, so ist dies keine sonderlich schwere Aufgabe. In der uns zugewachsenen und antrainierten Bescheidenheit sind wir gern bereit, Unerklärliches, auf das wir in der Besinnung stoßen, Seiner Beantwortung zu überlassen, haben wir doch im Dritten Schritt unser Leben und unseren Willen Seiner Sorge anvertraut.

Solcher Rückzug in unser Inneres kann fündig werden. Wer nämlich nicht weiß, wo was in ihm steckt, hat nichts griffbereit, wenn er etwas braucht. Wer nichts hat, kann nichts geben. Wer nicht in der Besinnung Neues entdeckt hat, kann auf Fragen nicht oder immer nur dasselbe antworten. Wer nie zur Besinnung kommt, bleibt in seiner Entwicklung stehen.

Die Frage als Wünschelrute

Die Wünschelrute bei solch einem Entdeckungsgang ins Innere ist die Frage. Auf vieles wird man in der Besinnung gedanklich eine Antwort finden. Aber in allen Kulturen der Welt, ob bei den Inkas in Peru, den Buddhisten in Indien oder den Mönchen im christlichen Abendland: Zur Meditation vertiefte Besinnung stößt überall an die Grenze des mit menschlichem Verstand und mit Erfahrung Erfassbaren. Was über das gedanklich Fassbare hinausgeht, bezeichnet man mit dem Fremdwort Transzendenz.

In solche Bereiche kommen wir im Besinnen über das so einfach ausgedrückte und doch so wunderbar weltenaufschließende A.A.-Programm. Es führt uns im zweiten Teil seiner Empfehlung des Elften Schrittes in die Demut des Programmpunktes sieben zurück.

Unser Gebet, das in der Besinnung geführte Zwiegespräch mit der Höheren Kraft, zielt auf den Wunsch, dass Er uns Seinen Willen erkennbar machen möge. Schon im Dritten Schritt haben wir unseren Willen dem Seinigen untergeordnet. Wir haben das gern, freiwillig und bescheiden getan, weil wir bis dahin mit dem krampfhaften und krankhaften Durchsetzenwollen des eigenen Willens keine besonders guten Erfahrungen gemacht hatten.

Ein kleines Wort noch aus dem Elften Schritt sollte am Schluss dieser Betrachtung nicht unter den Tisch fallen: "Nur" steht da an einer Stelle, 'praying only for knowledge of His will for us' heißt es im englischen Originaltext. Also Ihn bitten um nichts anderes als um die Erkenntnis dessen, was Er für uns will, was Er mit uns vorhat, welchen Weg Er uns zugedacht hat. Das setzt ein unendliches Maß an Vertrauen voraus und verweist all unsere lächerlichen Bittgebete mit gezielten Wünschen in die Kategorie der Kleingläubigkeit. Dieses "Nur" im Elften Schritt, dieses vorbehaltlose "Dein Wille geschehe" ist die höchste Vollendung der Gelassenheit, um die wir am Schluss des Meetings immer bitten.

Schließlich steht im Elften Schritt noch das Wort Kraft: Unsere eigene Kraft nämlich reicht nicht aus, Seinen Willen auszuführen. Deshalb steht die Bitte, Er möge uns einen Arm leihen, hier noch einmal ausdrücklich. Übergeordnet aber ist ganz sicherlich das Gebet um die Erkenntnis 'nur' Seines Willens.

Vieles in unserem Leben tun wir unbewusst. Ein Hauptanliegen des Programms der Anonymen Alkoholiker ist es, unser Leben, das bis dahin einfach so dahingeschludert ist, ins Bewusstsein zu rücken, damit wir es in Nüchternheit im Griff behalten. So unbewusst, wie uns vieles im Leben von der Hand geht oder durch die Finger gleitet, haben wir bisher oft auch gebetet. Ja, viele tun dies, ohne es wahrhaben zu wollen.

Sinn der vorstehenden Betrachtung war es unter anderem, klarzumachen, dass beten nicht unbedingt etwas Feierliches ist; nichts wozu man andächtig aufstehen oder die Hände falten muss. Wenn beten Kontaktaufnahme mit Gott, so wie wir Ihn verstehen, bedeutet, dann beten wir beispielsweise im Meeting oft, schon lange bevor wir es mit dem Gelassenheits-Gebet abschließen.

Ist Dir eigentlich klar geworden, dass die aufnahmebereite, nachdenkliche Beschäftigung mit dem vorstehenden Text eine Form des Gebetes war? Genauso wie wir beten, wenn wir gedankenlos die Redensart benutzen "Gottseidank".

 

Unser Weg
Herausgegeben und ©: Anonyme Alkoholiker deutscher Sprache
6. Auflage 28.-32. Tausend
Druck: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH, Heimstetten bei München
Printed in Germany