DER ZEHNTE SCHRITTDer Zehnte Schritt
Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu. Jetzt sind wir im Programm der Anonymen Alkoholiker im Heute. Die Schritte eins bis neun halfen uns, die Vergangenheit zu überdenken, zu ordnen, aus Fehlern zu lernen und Brauchbares mitzunehmen in das jetzt beginnende neue Leben. Nachdem wir im Ersten Schritt kapituliert und in den folgenden Punkten des Programms bewusst Gott als Partner und Lenker in unser Leben genommen hatten, ging es in den Schritten vier bis neun um die Aufarbeitung des Gewesenen und dabei zuletzt vor allem um die Ordnung unserer mitmenschlichen Beziehungen. Im Zehnten Schritt gibt uns das A.A.-Programm Empfehlungen für den Alltag an die Hand. Und zwar für den Alltag so wie er ist, mit seinen Ärgernissen und Freuden, mit seinem Einerlei und seinen Überraschungen. In diesem Alltag wollen wir uns bewähren; wir wollen anders leben als früher. Doch wozu das? Genügte es nicht, wenn wir nicht mehr trinken? Hat der Freund nicht recht, der gesagt hat: "Ich darf alles, nur nicht saufen?" An dieser Stelle kann die Meetingsabende füllende Diskussion nur angedeutet (und angeregt) werden: Ist unser Programm nur dazu da, dass wir nüchtern bleiben? Besteht der ganze Sinn meines weiteren Lebens nur in der Erhaltung meiner Nüchternheit oder ist die Erhaltung dieser Nüchternheit erst die Voraussetzung für ein darauf aufbauendes neues Leben? Dies letztere kommt sicherlich der Wahrheit und dem eigentlichen Sinn des Programms näher. Lebensprogramm Es ist eigentlich auch eine müßige, ganz praxisferne Diskussion um die Fragestellung, ob die Nüchternheit voller Sinngehalt oder nur Voraussetzung für ein neues Leben ist. Rein praktisch sieht es nämlich doch so aus, dass der zuvor abhängige Alkoholiker mit dem Entschluss zur totalen Abstinenz das Steuer seines Lebens um hundertachtzig Grad herumwirft und damit ein neues Leben beginnt. Tut er das nämlich nicht, in dem Glauben, er brauche fortan nur nicht mehr zu trinken und alles andere könne unverändert bleiben, so ist seine Trockenheit nicht von langer Dauer. Das Programm der Anonymen Alkoholiker hilft uns zu fortdauernder Nüchternheit, weil es über die Bewältigung des Alkoholproblems hinaus uns Richtschnur und Verhaltensregeln an die Hand gibt, die uns Situationen meistern lassen, in denen eben diese Nüchternheit besonders gefährdet ist. Im gesamten Programm kommt jedenfalls das Wort "Alkohol" nur einmal im zweiten Halbsatz des Ersten Schrittes vor. Das übrige Programm geht davon aus, dass das akute Alkoholproblem damit für uns erledigt ist, dass wir heute das erste Glas stehen lassen. Aber was will das A.A.-Programm, was wollen die Anonymen Alkoholiker? Sollen wir zu Heiligen gemacht werden, zu einer ausgewählten Gruppe der Friedfertigen in einer friedlosen Welt? Hier nur der Versuch, Antworten zu geben auf diese Fragen, die im Meeting immer mal wieder gestellt werden: Zunächst gibt es den verschwommenen, unfassbaren Begriff "die Anonymen Alkoholiker" nicht. Die Anonymen Alkoholiker: Das sind wir alle. Die zuvor gestellte Frage darf also nicht lauten: Was wollen "die Anonymen Alkoholiker", es muss richtig heißen: Was wollen wir, oder noch richtiger: Was will ich? - Nun, ich will nicht mehr so leben wie früher, ich will nicht mehr trinken. Um das zu erreichen, muss ich bewusst leben, muss mein Leben im Griff und unter Kontrolle halten. Ich kann mein Leben nicht dahinschludern lassen. Ich muss lernen zu leben. Jawohl lernen, so wie man lesen, nähen, melken, Auto fahren und hobeln lernt. "Leben" ist ein Lernberuf. Und weil viele in diesem Beruf ungelernt herumpfuschen, klappt es oft so schlecht. Eine "Betriebsanleitung", ein Lehrbuch für uns Lehrlinge auf dem Berufsfeld "Leben", sind die zwölf Schritte des Programms der Anonymen Alkoholiker. Es ist sicherlich keine schönrednerische Untertreibung sondern glasharte Realität, wenn wir uns vorläufig noch als Lebens-Lehrlinge einstufen, die auf den Gesellenbrief hinarbeiten; an den Meistertitel wollen wir in der uns zugewachsenen Bescheidenheit lieber erst gar nicht denken. Ein Kapitel, eigentlich das zentrale Kapitel in diesem Lehrbuch, ist der Zehnte Schritt. Ihm kommt deshalb eine solch zentrale Bedeutung zu, weil er mit seiner Empfehlung zur fortgesetzten Inventur die Hauptaufgabe in diesem neuen Leben stellt: ständiges Kontrollieren unseres Handelns und Reagierens. Der Zehnte Schritt heißt mit anderen Worten: bewusst leben, nicht im Alltag herumschludern und dieselben Fehler immer wieder machen. Er ist auch im positiven Sinne eine Kontrolle. So wie er uns Rückschläge aufzeigt, macht er uns auch Fortschritte bewusst, er vermittelt somit Erfolgs-Ergebnisse und ist dadurch eine Quelle für Zufriedenheit und Glück. Der eigene Schiedsrichter Derjenige, der noch nicht mit kontrolliertem, bewusstem Leben in der angedeuteten Art begonnen hat, mag zurückschrecken bei dem Gedanken, dass er künftig sein eigener Schiedsrichter sein soll. Der Neuling im Programm wird sich ausmalen, ein Leben in Selbstdisziplin sei etwas Trübseliges. Den Einwand "Da kann ich ja gleich in ein Kloster eintreten" wird dieser Freund nicht mehr machen, wenn er einige Zeit im Programm lebt und mit jedem Tag Freude hinzugewinnt an diesem neuen Leben. Die Freude wächst nämlich, weil das Glück nicht mehr durch die Droge Alkohol erschwindelt und vorgegaukelt, sondern bei klarem Verstand bewusst erlebt wird. Diese Freude an dem neuen Leben wird nicht gemindert, wenn man sich, wie es der Zehnte Schritt empfiehlt, selbst Kontrollpunkte an den Lebensweg setzt. Genauso wenig wie es dem begeisterten Autofahrer den Spaß verdirbt, wenn an gefährlichen Stellen Warnschilder oder Verkehrsampeln aufgestellt sind. Auf dem Lebensweg können wir uns allerdings den Spaß verderben, wenn wir in Übereifer und Überängstlichkeit alle zwanzig Meter einen solchen Kontrollpunkt setzen. Das heißt für den Zehnten Schritt, dass mit der Empfehlung zu fortgesetzter Inventur nicht gemeint ist, dass unser Leben jetzt nur noch aus aneinandergereihten Inventuren zu bestehen hätte. Wie bei allen Punkten des Programms kommt es auch hier auf das rechte Maß an. Hier das richtige Maß zu finden, ist gar nicht so schwer. Es gibt in jedem Tagesablauf untrügliche Anzeichen, die uns den Augenblick aufzeigen, in dem ein Innehalten, ein kontrollierendes Nachdenken angebracht ist. Plötzlich fühlt man sich in seiner Haut nicht wohl, ja man möchte aus ihr herausfahren. Plötzlich kribbelt es in den Fingern oder in der Magengegend. Plötzlich ist man misslaunisch, ohne zunächst den Grund zu erkennen. Verwirrung, Unmut, Ärger, Eifersucht, Zorn steigen in uns hoch. - Das ist der Augenblick, in dem es auf die Bremse zu treten gilt, um solche Aufwallungen in uns sich nicht steigern und zur Explosion kommen zu lassen. Wenn in diesem Augenblick die Frage nach der Ursache des Unmutes zu stellen ist, so sollte sie ichbezogen gestellt werden. Möglicherweise haben äußere Umstände oder die Menschen um uns zur Entstehung solcher Verwirrung, zum Aufkeimen des Unmutes oder Ärgers beigetragen. Aber eben nur beigetragen. Und über diesen Beitrag der anderen sollen sich die anderen ihre Gedanken machen. Uns hilft es zur Bereinigung der Situation nur, wenn wir - unter Umständen blitzschnell - herausfinden, wo unser Anteil an der Sache liegt und wie wir wieder von der Decke zurück auf den Boden der Gelassenheit zurückkommen. Das gilt auch für möglicherweise unvermeidbare Auseinandersetzungen, in denen derjenige, der überlegt, immer überlegen ist. Gerechter Zorn? Aber wie ist das mit dem so genannten gerechten Zorn? Mit der Empörung über uns zugefügte schlechte Behandlung? Darf man sich nicht ärgern, wenn man betrogen worden ist? Muss man nicht manchmal zu Recht aufgebracht sein? Im Prinzip sind alle diese Fragen mit ja zu beantworten. Dieses Ja aber ist insofern einzuschränken, als die Anlässe zu solcher Art Empörung wirklich ganz seltene Ausnahmen sind. Und auch in diesen Ausnahme-Situationen kommt es entscheidend darauf an, wie wir reagieren. Zuerst einmal sollte jeder für sich überprüfen, wie sicher er überhaupt ist, zwischen berechtigtem und unberechtigtem Zorn zu unterscheiden. Dafür hat man Erfahrungswerte aus der Vergangenheit, auch aus jüngerer Vergangenheit. Es muss sich dabei nicht um die "nasse" Zeit handeln. Erfahrungswerte liegen eventuell auch über die Tatsache vor, dass man nicht gerade geschickt war in den Reaktionen, selbst wenn unser Zorn vermeintlich "gerecht" war. Vorsicht ist also in jedem Fall am Platze. Mitmenschliche Kontakte verlaufen nicht nach mathematischen Formeln. Auch die sich innerhalb solcher Kontakte ergebenden Schwierigkeiten und Ärgernisse sind nie so gesteuert, dass auf der einen Seite hundert Prozent Schuld und auf der anderen Seite gar keine Schuld wäre. Die Blitzschnell-Inventur Es lohnt sich demnach, auch in solchen Situationen die Blitzschnell-Inventur einzuschieben. Das ist sicherlich besser, als sich innerhalb der vielleicht unvermeidlichen Auseinandersetzung durch einen Wutausbruch die Position zu verderben. Denn: Wer brüllt, hat immer Unrecht. Eine solche Unbeherrschtheit belastet über Stunden, hält uns in explosivem Reizzustand, weil der Zorn in uns lange Zeit gegen die keimende Einsicht argumentiert, dass wir so hundertprozentig nun doch nicht im Recht waren. Wenn jeder von uns einmal genau über seinen letzten Wutausbruch nachdenkt, vielleicht auch über eine extreme Niedergeschlagenheit, über eine Situation, in der man mal wieder so richtig in seinen Wallungen gebadet hat, entdeckt er dabei nicht gefährliche Parallelen zum Verhalten in der Trinkerzeit? Ist dieses genüssliche Verharren in angespannter Reizlage, ohne auch nur den geringsten Versuch, sich zurückzuholen, nicht artverwandt mit unseren früheren Zuständen? Schon in einer der ganz frühen Schriften der Anonymen Alkoholiker wird in diesem Zusammenhang das Wort "Trocken-Rausch" gebraucht, verbunden mit einer eindringlichen Warnung, weil es vom Kontrollverlust über die Gefühle oft nur ein Schritt ist zum "nassen Rausch". Selbstbeherrschung aber ist nicht nur in den geschilderten Situationen berechtigter oder unberechtigter Wut vonnöten. Auch im Alltags-Einerlei kann tropfenweise verabreichte Unfreundlichkeit, Geringschätzung und Lieblosigkeit unsere Beziehungen zu Angehörigen oder Kollegen nachhaltig trüben. Bei der Inventur ergibt sich, dass der Grund für solches Fehlverhalten meist Überheblichkeit ist. An dieser Stelle springen die Betrachtungen zurück zum "Trocken-Rausch", der seine Ursache öfter als im Zorn in der Erfolgs-Euphorie hat. Kaum sind wir trocken, klopft man uns anerkennend auf die Schulter. Regeln sich dann noch unsere Schwierigkeiten, kommt ein bisschen materieller Erfolg hinzu, schon sind wir wieder "die Größten". Das ist wie früher, als wir in einer Phase der Trinkerzeit auch gern im Mittelpunkt standen. Wie früher am Alkohol, berauschen wir uns jetzt an unserer Nüchternheit. Wir spielen uns auf, als ob es etwas Besonderes wäre, nicht besoffen zu sein. Eine Schleuse gegen solch prahlende Großtuerei ist die Erinnerung daran, dass wir durch die Gnade Gottes heute nüchtern sind. Auf solche Erkenntnisse stoßen wir bei der im Zehnten Schritt empfohlenen "Immerwieder-Inventur", Im Gegensatz zu der Entrümpelung unserer Vergangenheit im Vierten Schritt geht es jetzt um das Ordnunghalten in unserem Lebenshaushalt. Und genauso wie eine tüchtige Hausfrau tagsüber zwischendurch immer mal auf Ordnung sieht, einmal am Tag gründlich Staub wischt und alle paar Monate die Wohnung auf den Kopf stellt, so kann der Rhythmus der fortgesetzten Inventur des Zehnten Schrittes aussehen. Das ist zunächst die Sofort-Kontrolle, über die zuvor schon gesprochen worden ist. Sie erweist sich im Verlaufe eines Tages automatisch in gewissen Situationen als notwendig. Sie wird in einem gern und bewusst gelebten Leben zur Routine. Dann gibt es das Innehalten in einer Mußestunde. Das kann, aber muss nicht immer abends vor dem Einschlafen sein. Jedenfalls ist die Kontrolle über den Tag ein wichtiger Bestandteil unseres Selbst-Entwicklungsprogramms. Tagesinventur Diese Tagesinventur sollte sich aber nicht im vielleicht mühsamen Zusammensuchen von Fehlverhalten beschränken. Da gibt es jeden Tag auch einiges auf der Habenseite des Kontoblattes einzutragen: an alleroberster Stelle immer wieder aufs Neue die nie zur Selbstverständlichkeit werdende Tatsache unserer Nüchternheit. "Damit habe ich schon 51 Prozent", hat ein Freund einmal im Meeting gesagt und damit gemeint, dass jeder nüchterne Tag in seinem Leben ein gewonnener Tag ist. - Manches ist uns natürlich auch wieder nicht geglückt, ist nicht so gelaufen, wie wir es uns vorgenommen hatten. Misserfolg aber sollte uns nicht niederdrücken, er kann in Gewinn umgemünzt werden, wenn er in seinen Ursachen erkannt und damit zum Ansporn fürs Bessermachen am nächsten Tag wird. Anlass genug, auch im Misserfolg und bei Rückschlägen optimistisch zu sein, haben wir Anonymen Alkoholiker: denn, stand nicht das Leiden unserer Trinkerzeit vor der von Tag zu Tag schöner werdenden Nüchternheit; sind wir nicht als ein Nervenbündel zerrütteter Gefühle und Verhältnisse in dieses Leben gestartet, in dem jetzt mehr und mehr heitere Gelassenheit Platz greift? Quartals-Kontrolle Neben der Zwischendurch-Kontrolle oder Spontan-Inventur (wie man es auch nennen mag) und der Tagesbilanz gibt es die Zwischenprüfung, die Etappenkontrolle, die man alle paar Monate einschieben sollte. Zu diesem inneren Hausputz ziehen sich viele A.A.-Freunde irgendwohin in eine ruhige Gegend auf ein paar Tage zurück. Religionsgemeinschaften, die etwas Ähnliches empfehlen, sprechen von "Rüstzeit". Das ist ein Ausdruck, der sehr gut trifft, was der Zehnte Schritt meint, wenn er uns empfiehlt, ab und zu innezuhalten und nachzudenken. Wir kontrollieren dabei, wie weit wir gekommen sind, und rüsten uns für den weiteren Weg. Der Zehnte Schritt sagt auch, dass wir das bei der Inventur erkannte Unrecht eingestehen sollen. Gemeint ist, dass wir es uns selbst eingestehen, dass wir nicht tausend Ausreden suchen, wenn wir daneben getappt sind. Uns selbst brauchen wir am wenigsten etwas vorzumachen. Nennen wir es also nicht einen "konstruktiven Diskussionsbeitrag", wenn wir uns nur mal wieder selbst gern reden gehört haben. Erkennen wir doch klar bei der Inventur, dass es nur wieder darum ging, uns in den Vordergrund zu spielen, als wir in Abwesenheit über die Kollegin getratscht haben. Das sind nur zwei Beispiele für die Grundtendenz, dass wir unserem Tun immer andere und bessere Beweggründe unterschieben wollen, als ihm tatsächlich zugrunde gelegen haben. Hier nach und nach zur Wahrhaftigkeit vor sich selbst zu finden, darauf zielt der Zehnte Schritt mit seiner Empfehlung, erkanntes Unrecht jeweils sofort zuzugeben. Dieses Unrecht-Zugeben kann und sollte natürlich auch anderen gegenüber gehandhabt werden. Mehr darüber steht in den vorausgegangenen Kapiteln über die Schritte acht und neun. Hier abschließend nur soviel: Es bricht uns kein Zacken aus der Krone, wenn wir einem anderen gegenüber ein Unrecht zugeben und uns entschuldigen. Apropos: Zacken aus der Krone: - Sollten wir die Krone nicht lieber ganz absetzen? Unser Weg
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