Der Engel der Weisheit
Wenn wir von einem Menschen sagen, dass er weise sei, klingt immer etwas von Geheimnis mit. Der weise Mensch ist eingeweiht in tiefe Geheimnisse. Er glänzt nicht durch Vielwissen, sondern durch sein Gespür für das Eigentliche. Er blickt durch. Er kennt die letzten Urgründe des Lebens. Er weiß um die tieferen Zusammenhänge allen Seins. Er hat Einblick in das Geheimnis Gottes und des Menschen. Weisheit hat durchaus mit Wissen zu tun. Das deutsche Wort "wissen" kommt von "sehen", ähnlich wie die Griechen das Wissen mit dem Sehen in Zusammenhang gebracht haben. Der Weise hat gesehen, wie es um den Menschen steht. Er sieht tiefer. Er sieht das Eigentliche, das Wesen, die wahre Gestalt allen Seins. Weisheit kann man - so sagen die Griechen - lernen. Aber sie ist auch ein Geschenk von Gott. Sagen erzählen davon, dass die Weisheit ursprünglich im Besitz der Götter war. Athene und Apollon galten vor allem als Götter der Weisheit. Die Musen vermitteln die Weisheit den Dichtern. Die philosophische Richtung der Sophisten beansprucht die Weisheit für sich. Sie verstehen Weisheit als geschicktes Reden. Die Sophisten sind die Vorläufer der heute so weit verbreiteten Haltung, die Wissen als Besitz versteht. Was ich weiß, darüber kann ich verfügen. Das Wissen kann ich abrufen. Es ist Macht. Dagegen protestiert Sokrates. Die wahre Weisheit ist für ihn zu wissen, dass man nichts weiß. Platon drückt es positiver aus. Für ihn besteht die Weisheit darin, den Urgrund aller Dinge zu sehen. das Wesen der Dinge zu erkennen. Der Weise erkennt das Sein selbst. Und das Sein ist für Platon das Gute und Schöne. Der Weise ist vertraut mit dem Guten und dem Schönen. Weisheit heißt für Platon, die Dinge lassen zu können, das Sein zu bewundern, aber nicht in Besitz zu nehmen.
Im Lateinischen heißt Weisheit "sapientia". Und das kommt vin "sapere = schmecken, kosten". Der Weise hat nicht nur in den Urgrund der Welt hineingesehen. Er hat auch viel geschmeckt. Er hat Erfahrungen gemacht. Er hat einen Geschmack für das Gute, für das, was dem Menschen nützt. Und er weiß um den Geschmack des Bösen, das den Menschen bitter macht und ihm Schaden zufügt. Weise ist der, der sich selbst schmecken kann, der im Einklang ist mit sich selbst. Er hat die Höhen und Tiefen des Menschseins erfahren und gekostet. Jetzt weiß er, was im Menschen steckt. Nichts Menschliches ist ihm mehr fremd. Aber obwohl der Weise auch in die Abgründe des Menschseins geschaut hat, ist er nicht resigniert. Er ist im Tiefsten einverstanden mit dieser Welt. Denn er hat den Grund der Welt erkannt, Gott den Schöpfer allen Seins.
Die Bibel preist die Weisheit in wunderbaren Liedern. Das Alte Testament kennt eine eigene Weisheitsliteratur, so wie alle Religionen Weisheitslehren verkünden. Die tiefste Einsicht der jüdischen Weisen besteht in dem Satz: "Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht, die Kenntnis des Heiligen ist Einsicht" (Spr 9,10). Der Weise weiß um Gott, um die Erhabenheit und Heiligkeit Gottes. Er weiß zu unterscheiden zwischen Gott und Mensch. Er beugt sich vor dem Geheimnis Gottes. Er lässt sich davon betreffen. Paulus hat die wahre Weisheit im Kreuz Jesu Christi entdeckt. Am Kreuz hat Jesus die tiefste Erfahrung seines Lebens gemacht, dass der Tod in neues Leben verwandelt wird, dass die Dunkelheit zum Licht und die Verlassenheit zur Gemeinschaft mit dem göttlichen Vater wird. Schon die Evangelien schildern Jesus als den Weisen, der einführt in das Geheimnis Gottes und des Menschen. Am Kreuz hat Jesus geschmeckt, was Leben und Tod ist. So verkündet das Kreuz eine andere Weisheit als das Geheimwissen esoterischer Kreise, wie sie damals in Korinth verbreitet war und wie sie heute noch weit verbreitet ist.
Wir können die Weisheit nicht durch viel Lesen erwerben. Für Paulus ist es der Geist Gottes, der in die Weisheit einführt. Gott selbst sendet uns seinen Geist, damit wir die Weisheit lernen. Für die Griechen waren es Apollon oder Athene oder die Musen, die den Menschen Weisheit schenkten. Für uns ist es der Engel, den uns Gott schickt, damit er uns die Weisheit lehrt. Der Engel gibt uns nichts zum Auswendiglernen. Er will nicht unser Vielwissen mehren. Der Engel der Weisheit lehrt uns, indem er uns viel sehen lässt, indem er uns die Augen für das Eigentliche öffnet, indem er uns in den Urgrund der Welt schauen lässt, dorthin, wo alles zusammenhängt, wo alles in Gott selbst gründet.
So wünsche ich dir, dass dich der Engel der Weisheit begleitet, dass er dir die Augen öffnet, damit du dich bei dem Vielerlei, das du siehst, nicht verirrst und verwirrst, sondern das erkennst, worauf es eigentlich ankommt. Der Engel der Weisheit wird dich nicht vor Fehlern bewahren. Er erzieht durch Versuch und Irrtum, um dir den Geschmack zu vermitteln für das, was dir wirklich gut tut. Aber den Geschmack des Lebens wirst du nur erkennen, wenn du ihn vom Geschmack des Todes unterscheiden kannst. Ich wünsche dir den Engel, der dich weise werden lässt, der dich einverstanden sein lässt mit dem Leben, der dir die Augen öffnet für den Grund allen Seins, für die Liebe Gottes. Dort, in Gottes Liebe, kannst du dein Leben bejahen mit all seinen Widersprüchen. Dort wird alles eins, was dich sonst zu zerreißen droht. Dort schmeckst du, was Leben heißt, dort sieht du, was eigentlich ist, dort weißt du, wie alles zusammenhängt.