Der Engel der Wachsamkeit

Anforderungen des Lebens aus dem Weg zu gehen und sich in den Schlaf zu flüchten - wer kennt nicht diese Tendenz? Viele entziehen sich der Herausforderung des Augenblicks durch Illusionen, die sie sich vom Leben machen, oder durch Betäubung mit Alkohol oder Drogen. Jesus kennt die Neigung des Menschen, einfach dahinzuleben, ohne sich Gedanken zu machen. Immer wieder ruft er zur Wachsamkeit auf: „Seid also wachsam!" (Mk 13,35). Die Wachsamkeit, zu der Jesus auffordert, hat drei Aspekte. Da ist zum einen die Wachsamkeit im Augenblick. In jedem Augenblick pocht Gott an unsere Türe. Es sind die leisen Impulse, mit denen er uns darauf aufmerksam macht, was gerade das Gebot der Stunde ist. Da spüren wir im Innern, dass wir auf diesen Menschen zugehen und ihn ansprechen sollten. Aber schon verdrängen wir diese leise Stimme. Oder wir tun das, was die Psychologen „Rationalisierung" nennen. Wir finden viele Gründe, warum es nicht angebracht ist, das zu tun, wozu uns die innere Stimme antreibt. Wachsamkeit im Augenblick meint, dass ich ganz präsent bin, dass ich mich auf den gegenwärtigen Augenblick ungeteilt einlassen kann, ohne an Vergangenes zu denken oder schon die Zukunft zu planen.

Der zweite Aspekt der Wachsamkeit ist das Wachen gegenüber dem Bösen, gegenüber destruktiven Gedanken und Gefühlen, die von uns Besitz ergreifen möchten. Jesus vergleicht uns mit dem Türhüter, dessen wichtigste Aufgabe es ist, „wachsam zu sein" (Mk 13,34). Das Bild des Türhüters war im frühen Mönchtum beliebt. Wir sollen an der Türe unseres inneren Hauses sitzen und jeden Gedanken, der bei uns eintreten möchte, befragen, ob er zu uns gehört oder zu unseren Gegnern. Wachsamkeit heißt also, dass wir Acht geben auf das, was auf uns einströmt. Wir sollen nicht jedem Gedanken und jeder Emotion Zutritt gewähren. Denn sonst würden sie sich bald als Hausbesetzer entpuppen, die uns das Leben in unserem Lebenshaus schwer machen und uns immer mehr herausdrängen aus unserer Mitte. Wenn wir nicht wachsam sind, schleicht sich vieles in uns ein, das uns von unserem bewussten Weg abbringt. Und auf einmal merken wir dann, dass wir gar nicht mehr selber leben, sondern von unbewussten Kräften gesteuert werden. Oder wir spüren, dass wir nicht selber Herr in unserem Hause sind, sondern von Unzufriedenheit und Bitterkeit, von Angst und Depression beherrscht werden, die sich als Untermieter bei uns eingeschlichen und nun die Herrschaft in unserem Haus an sich gerissen haben.

Jesus ruft uns zur Wachsamkeit, weil der Herr des Hauses zu jeder Stunde kommen könnte. Die frühen Christen rechneten jeden Augenblick mit dem Ende der Zeit. Es geht aber nicht darum, über das Ende der Welt zu spekulieren. Im Tod kommt der Herr zu Dir. Dann ist für Dich Ende der Zeit. Dann ist für Dich die Zeit vollendet und die Ewigkeit bricht für Dich an. Obwohl wir wissen, dass unsere Zeit irgendwann zu Ende sein wird, wiegen wir uns in der Illusion, als ob es immer so weitergeht. Wachsamkeit heißt: Aufwachen zur Wirklichkeit, Aufwachen aus dem Schlaf der Illusionen, damit Du Dich der Realität stellen kannst. Der Mystiker ist der „Aufgewachte, Aufgeweckte". Er ist in Berührung mit der Wirklichkeit. Er hat ein Gespür dafür, was es heißt, zu leben, zu atmen, zu sprechen, zu hören, zu sehen, Menschen zu begegnen und das Geheimnis jeden Augenblicks zu verkosten.

Der Engel der Wachsamkeit möge Dich begleiten, damit Du jeden Augenblick bereit bist, auf die leisen Stimmen Deines Herzens zu hören und das zu tun, was gerade jetzt für Dich ansteht. Und der Engel der Wachsamkeit soll bei Dir sein, wenn sich Dein Denken und Handeln einzutrüben beginnt durch die trüben Wasser, die in dein Haus eindringen möchten. Ich wünsche Dir den Engel der Wachsamkeit, damit Du jeden Augenblick gleichsam als den letzten und wichtigsten Augenblick Deines Lebens wahrnimmst, dass Du ganz im Augenblick sein kannst, dass Du ganz gegenwärtig bist. Dann bist Du nicht nur im Augenblick, sondern auch in Gott, der der immer gegenwärtige Gott ist.