Der Engel des Verzichts

Der Engel des Verzichts mag manchem auf den ersten Blick nicht so angenehm erscheinen. Und er möchte ihn lieber zu anderen schicken, als ihn bei sich selbst einzulassen. Aber nur wer verzichten kann, kann auch genießen. Wenn Du Dein Leben genießen willst, solltest Du den Engel des Verzichts bitten, Dich in seine Schule zu nehmen. Verzichten kommt von „verzeihen" und bedeutet eigentlich: „einen Anspruch aufgeben". Ich habe Anspruch auf eine Geldleistung, aber ich verzichte darauf. Ich lasse den Anspruch. Dieses Bild wurde in der Askese vor allem im Umgang mit irdischen Gutem gebraucht. Da meinte man vor allem Verzicht auf kostbare Speisen und berauschende Getränke, Verzicht auf Reichtum und Besitz, Verzicht auf die Ehe. Verzicht bekam einen negativen Beigeschmack. Manchmal kam da eine Grundhaltung zum Vorschein, für die Verzichten immer besser als Genießen ist. Letztlich steht hinter dieser Haltung ein negatives Gottesbild. Gott gönnt mir nichts. Daher darf ich mir auch nichts gönnen. Doch dieses Gottesbild ist konträr zu dem, das Jesus uns verkündet hat. Jesus verzichtet nicht auf Essen und Trinken. Ja, er wird sogar Fresser und Weinsäufer genannt. Das Ziel des Lebens ist das Genießen. Die Mystiker sprechen davon, dass das ewige Leben im dauernden Genuss Gottes besteht. „Frui deo -Gott genießen" ist demnach unser letztes Ziel. Wir werden ihn aber wohl kaum genießen können, wenn wir uns hier nicht eingeübt haben in den Genuss der Gaben, die er uns anbietet.

Wer jedes Bedürfnis sofort befriedigen muss, der wird abhängig. Er wird von seinen Bedürfnissen bestimmt. Und - so sagen die Psychologen - er wird nie ein starkes Ich entwickeln. Sogar für Sigmund Freud, der doch so sehr auf der Erfüllung der Triebansprüche pochte, ist die Realitätsanpassung des Kindes nicht ohne Verzicht möglich. Ohne Realitätsanpassung wird das Kind nie erwachsen. Verzichten darf aber nicht aus der Angst heraus geschehen, als ob Genießen etwas Schlechtes wäre. Wenn einer auf ein gutes Essen verzichtet, weil er ein schlechtes Gewissen hat, wenn er genießt und die Straßenkinder in Südamerika hungern, dann kann das leicht zu einem zwanghaften Verhalten führen. Natürlich ist es sinnvoll, auf ein gutes Essen zu verzichten, damit der andere besser leben kann. Aber oft genug ist solcher Verzicht dann überhaupt von einer Haltung der Lebensverneinung geprägt. Man gönnt sich selbst nichts mehr. Im Grunde aber gönnt man dann auch dem nichts, für den man verzichtet. Wenn der mit seinen Bedürfnissen anders umgeht als wir, sind wir beleidigt. Verzichten braucht immer die innere Freiheit. Ich muss mein Bedürfnis anerkennen und mich damit aussöhnen. Dann kann ich mich auch davon distanzieren. Verzichten ist aber nicht nur Ausdruck der inneren Freiheit. Es kann auch in die Freiheit rühren. Wenn ich spüre, dass ich abhängig bin vom Kaffee am Morgen oder vom Bier am Abend, dann ist es sinnvoll, mir die Freiheit zu nehmen, einige Zeit, etwa während der Fastenzeit, darauf zu verzichten. Dann fühle ich mich wieder frei. Das tut meinem Selbstwertgefühl gut.

Verzichten ist aber nicht nur ein Privatvergnügen. Es hat auch eine gesellschaftliche Perspektive. Ohne eine neue Kultur der Askese - so sagen uns die Soziologen - können wir in unserer Welt wohl kaum überleben. Die Ressourcen sind begrenzt. Wir können nicht unbegrenzt konsumieren. Durch den Verzicht müssen wir uns anpassen an die Realität dieser Welt mit ihren begrenzten Möglichkeiten. Der Engel des Verzichts möge Dich in die Kunst des gesunden Lebens und in die innere Freiheit einführen. Aber er möge Deinen Blick auch weiten auf die wirtschaftliche und politische Situation unserer Welt. Ohne deinen Beitrag werden die Mittel nicht für alle reichen. Der Engel des Verzichts soll dir aber kein schlechtes Gewissen machen, dass du nichts mehr genießen darfst, dass du bei allem gleich an die Armen denken musst, die jetzt gerade nicht haben. Der Engel des Verzichts möge dich beides lehren: zu genießen, was dir an Gaben geschenkt ist, und zu verzichten, um dich selbst innerlich frei zu fühlen und um anderen den Genuss an dieser Welt zu gönnen.