Der Engel des Vergessens

"Vergessen" ist ein schillerndes Wort. Wenn ein Mensch vergesslich ist und alles vergisst, was wir ihm aufgetragen haben, dann ärgert uns das. Wir können uns nicht auf ihn verlassen. Er vergisst alles. Manchmal kann das Vergessen auch die einzige Möglichkeit sein, sich gegen zu hohe Anforderungen zu wehren. Man vergisst einfach, was der Vorgesetzte oder was der Ehepartner von einem will. Vergessen in diesem Sinn heißt: "aus dem geistigen Besitz verlieren, etwas nicht zu fassen bekommen". Aber wenn einer die Verletzungen vergessen kann, die wir ihm angetan haben, dann sind wir froh darüber. Dann haben wir das Gefühl, der andere ist nicht nachtragend. Wir können mit ihm immer wieder von Neuem anfangen. Das Alte belastet unsere Beziehung nicht. Diese zweite Bedeutung hat auch schon die Sprache im Mittelalter gewusst. Da sprach man von "ergötzen" und meinte eigentlich: "vergessen machen, entschädigen, vergüten". Wenn ich die Schuld vergessen mache, kann ich mich erholen und erfreuen. Vergessen wird also zur Ursache von Erholung und Freude. Die alte Last drückt uns nicht mehr. Wir können sie abschütteln und vergessen. Vergessen schafft Ergötzen.

Der Engel des Vergessens möchte uns sicher nicht dazu ermuntern, die Namen unserer Freunde zu vergessen oder die Aufträge zu vergessen, die wir angenommen haben. Der Engel möchte uns vielmehr einführen in das Vergessen, das zum Ergötzen und zur Freude führt. Der Engel will uns anleiten, das Unrecht zu vergessen, das andere uns angetan haben. Wir immer wieder auf die Verletzungen zurückkommt, die andere ihm zugefügt haben, der gibt den anderen viel Macht. Er lässt sich weiterhin bestimmen von den Kränkungen. Die verletzenden Worte werden seine Seele verwunden. Sie setzen sich in seiner Seele fest und zerfressen sie allmählich. Da braucht es den Engel des Vergessens, der die Seele vor solchen Verletzungen schützt. Vergessen heißt, das Unrecht, das der andere mir getan hat, loszulassen. Aber loslassen kann ich nur, was ich angenommen habe, womit ich mich ausgesöhnt habe. Ich darf nicht zu schnell vergessen. Sonst würde ich die Kränkungen verdrängen. Ich muss zuerst die Wut zulassen. Aber dann wäre es wichtig, das Vergangene vergangen sein zu lassen und es zu vergeben und zu vergessen. In diesem Sinn ist Vergessen die Höchstform von Vergeben. Der Engel des Vergessens befähigt mich dazu, das Vergangene zu begraben und es ruhen zu lassen. Aber wie verhält sich der Engel der Erinnerung zum Engel des Vergessens? Kämpfen sie gegeneinander? Wenn ich Unrecht vergeben und vergessen habe, dann kann ich mich an das Vergangene erinnern, ohne dass der Groll oder die Bitterkeit wieder hoch kommen. Die Erinnerung ist frei von emotionaler Erregung. Meine Seele wird durch die Erinnerung nicht befleckt, sondern nach innen geführt, zu ihrem innersten Kern.

Das eigentliche Ziel des Vergessens besteht darin, sich selbst zu vergessen. Es ist eine große Gnade, sich selber annehmen zu können. Aber die Gnade aller Gnaden besteht darin, sich selbst vergessen zu können. Ich kenne Menschen, die ständig um sich kreisen. Wenn sie im Urlaub sind,  können sie sich nicht auf die Schönheit der Landschaft einlassen, weil sie sich fragen, ob sie den richtigen Urlaub gebucht haben, ob es wohl dort, wo sie sonst hin wollten, besseres Wetter gebe. Wenn sie einem Menschen begegnen, überlegen sie, was er von ihnen denkt. So sind sie blockiert, sich wirklich auf ihn einzulassen. Bei allem, was sie tun, steht ihnen ihr Ego im Weg. Andere stehen unter dem Zwang, sich ständig kontrollieren zu müssen. sie können sich nicht wirklich freuen, weil sie Angst haben, sie könnten sich nicht richtig benehmen, andere könnten etwas an ihnen kritisieren. So sind sie in ihrem Kontrollzwang eingeschlossen und dadurch ausgeschlossen vom Leben. Sich selbst zu vergessen ist die Kunst, wirklich präsent zu sein,. ganz im Augenblick zu sein, sich ganz auf das einzulassen, was gerade ist. Nur wenn ich aufhören, ständig an mich und meine Wirkung nach außen zu denken, kann ich mich auf eine Begegnung und auf ein Gespräch einlassen. Dann kann ich genießen, was da zwischen uns entsteht.

Ich wünsche dir den Engel des Vergessens, der dich befreit von dir selbst, der dir die Sucht nimmt, alles auf dich zu beziehen, bei allem fragen zu müssen, was es dir bringt. Der Engel des Vergessens möchte dich in die wahre Freiheit führen, in die Freiheit von den Fesseln des eigenen Ego. Wenn der Engel dich die Kunst des Vergessens lehrt, dann wirst du spüren, wie intensiv du alles wahrnimmst, was um dich herum ist, wie du auf einmal fähig wirst, zu genießen und den Augenblick auszukosten, das Leben selbst zu schmecken, ganz im Schmecken  zu sein und so den Reichtum des Seins zu erahnen. Der Engel des Vergessens wird deine Seele an ihre eigentliche Bestimmung führen,  dass sie sich selbst übersteigt in Gott hinein, dass sie sich selbst vergisst, um in Gott aufzugehen.