Der Engel der Toleranz

Toleranz kommt von „tolerare = tragen, ertragen,  eine Last tragen, dulden. Der Tolerante ist bereit, auch den anderen zu tragen und zu ertragen, wenn er anders denkt als er. Toleranz bedeutet daher die Bereitschaft, Menschen mit zu tragen, die nicht auf unserer Wellenlänge biegen, Gemeint sind Weitherzigkeit und Respekt vor dem Menschen, der eine andere Meinung und Glaubensüberzeugung vertritt ab wir selbst. Lessing hat in seinem „Nathan der Weise" die Toleranz, die Duldsamkeit gegenüber anderen religiösen Bekenntnissen, als Zeichen des aufgeklärten und weisen Menschen gepriesen. In unserenm Verständnis ist sie ein Kennzeichen wahrer Humanität. Wenn sie verloren geht, fällt der Mensch zurück in die Barbarei. Der engstirnige Fanatiker sieht in jedem Andersdenkenden einen schlechten Menschen. Der Tolerante achtet jeden mir seiner Meinung. Toleranz ist als Tugend der Mitmenschlichkeit gerade in unserer pluralistischen Gesellschaft gefragt. Ohne Toleranz wäre unsere Gesellschaft nicht fähig, zu überleben, Es gehl nicht um Übereinstimmung mit dem anderen, sondern um die Haltung, die sich bemüht, den anderen zu verstehen. Auch Gleichgültigkeit ist nicht gemeint, wohl aber ein Interesse am anderen, an dem, was mir zunächst fremd ist.  Toleranz bedeutet auch keineswegs Standpunktlosigheit, im Gegenteil. Sie verlangt vielmehr einen klaren und festen Stand. Nur wenn ich einen guten Stand habe, kann ich den anderen halten. Sonst würden wir beide im Strudel der Beliebigkeit untergehen. Was diese Haltung allerdings verlangt, ist Respekt vor dem anderen. Der tolerante Mensch versucht, den anderen zu verstehen, ihn so stehen zu lassen, wie er ist. Er lässt seine Vorurteile los, mit denen wir oft unbewusst die anderen festlegen, so dass sie sich nicht mehr bewegen können.

Religionen werden heute gerne mit dem pauschalen Verdacht der Intoleranz überzogen. In allen Religionen wurde aber immer wieder auch das Lob der Toleranz gesungen. Wenn im Islam die Gastfreundschaft dem Fremden gegenüber und die Bevorzugung des Gastes zum religiösen Gebot wurde, dann ist das heute auch noch ein Modell, wie etwa unterschiedliche Religionen im Gespräch miteinander umgehen können, ohne sich mit gegenseitigen Wahrheitsansprüchen zu überfordern. Im Dialog sind wir die Gäste des anderen und nehmen zunächst einmal das dankbar an, was er als Gastgeber uns anbietet. Wir richten unsere Gedanken erst einmal auf das Gute des anderen und bemühen uns, auch das Gemeinsame zu sehen. Dann entstehen wie von selber Brücken, auf denen man sich begegnen kann. Wer tolerant ist, sieht Verschiedenheit und Anderssein nicht als Bedrohung, sondern als Gnade und als Anstoß, auf den anderen zuzugehen. „Bereichern wir uns gegenseitig mit unserer Verschiedenheit", hat der französische Dichter Valery gesagt. Auch im Christentum gibt es diesen Impuls zur Toleranz von Anfang an. Jesus hat uns dazu aufgerufen. Gegenüber den Rigoristen, die am liebsten alle aus der kirchlichen Gemeinschaft hinauswerfen würden, die nicht ihren Normen entsprechen, mahnt er uns, Unkraut und Weizen bis zur Ernte wachsen zu lassen. Dann erst wird die Scheidung sein (vgl. Mt 13,24-30). Uns steht es nicht zu, die Menschen zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Der Tolerante kann warten. Er hofft, dass der andere seinen Weg findet, auch wenn er anders ist als der eigene. Er vertraut darauf, dass der Nächste auch über Irrwege und Umwege zu dem Weg findet, der ihn zum Leben führt. Jesus führt Gott selbst als Beispiel für die Tole­ranz an, die wir einander erweisen sollen. Gott „lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte" (Mt 5,45). So sollen auch wir die Sonne unseres Wohlwollens über alle Menschen scheinen lassen. Dann kann auch In den vermeintlich Bösen eine gute Saat aufgehen. Denn woher wissen wir, warum der andere Böses tut? Vielleicht tut er es aus Verzweiflung. Vielleicht verletzt er andere, weil er selbst verletzt wor­den ist und seine Verletzungen nur dadurch ertragen kann, dass er sie weitergibt.

Es ist nicht so leicht, tolerant zu sein. Bevor wir uns versehen, hat sich schon ein Vorurteil über den anderen gebildet. Er ist uns unsympathisch. Wir sehen ihn mit unserer dunkel gefärbten Brille und entdecken in ihm nur Unangenehmes. Wir sehen ihn nicht so, wie er Ist. Vielmehr sehen wir in dem unsympathischen Mann alle Männer, die uns in unserer Lebensgeschichte verletzt haben: Vater, Großvater, Bruder, Lehrer, Pfarrer, Nachbar, Vorgesetzte. Wir können nichts dafür, dass so ein Vorurteil in uns auftaucht. Noch bevor wir denken, Ist es schon in uns da. Toleranz heißt also, dass wir dem anderen trotz unserer Erfahrungen eine Chance geben, dass wir nicht bewerten. Das Vorurteil ist da. Ich schaue es an und ärgere mich nicht darüber. Aber ich distanziere mich gleichzeitig davon. Ich verbiete mir, über den anderen zu urteilen. Ich gewähre ihm den Raum, den er  braucht, um sich zu zeigen, wie er in Wirklichkeit ist.

Die Seele ist voll von Vorurteilen und Ressentiments, von Enge und Verurteilung. Daher brauchen wir den Engel der Toleranz, der unsere Seele befreit von allen Eintrübungen unserer Lebensgeschichte. Ich wünsche Dir, dass Dir der Engel der Toleranz immer schnell zur Seite steht, wenn in Dir ein negatives Bild von Deinem Mitmenschen hochkommt. Der Engel möchte Dich hinweisen auf seine unantastbare Würde. Er bewegt Dich dazu, dass Du auch über ihn die Sonne Deines Wohlwollens scheinen lässt und dass Du l den Regen Deiner Liebe über ihn regnen lässt, damit Gottes Leben auch in ihm zur Blüte kommen kann.