Der Engel der Selbsterkenntnis
Am Tempel in Delphi stand das Wort, das das gesamte abendländische Denken geprägt hat: "Gnothi seauton = Erkenne dich selbst". Der Anfang aller griechischen Weisheit besteht in der Selbsterkenntnis. Das griechische Wort "gignoskeln" meint ein Sehen. Ich soll mich also richtig sehen, so sehen, wie ich wirklich bin. Dazu muss ich mich befreien von den Illusionen, die ich von mir habe. Oft habe ich eine Brille auf, mit der ich nur sehr gefärbt sehe. Manche tragen eine rosarote Brille, mit der sie alles Negative übersehen und in sich nur das Heilung und Gute sehen. Andere schauen durch eine schwarze Brille. Sie sehen alles schwarz. Sie entwerten sich und machen sich vor allen schlecht. Unser aller Brille ist gefärbt durch unsere Lebensgeschichte mit ihren Verletzungen und Wunden. Und sie ist gefärbt durch unsere Wünsche und Bedürfnisse. Wir sehen in uns nur, was wir sehen wollen. Da brauchen wir den Engel der Selbsterkenntnis, der uns unsere Brillengläser immer wieder putzt, damit wir klar sehen, was wirklich in uns ist und wer wir in Wahrheit sind.
Das deutsche Wort "erkennen" heißt ursprünglich "Innewerden, geistig erfassen, sich erinnern". Ich erkenne mich selbst, indem ich meiner selbst innewerde, indem ich in mich hineingehe und den innersten Kern entdecke. Erkennen hat etwas damit zu tun, dass ich mit meinem Innern in Berührung bin, dass ich nicht nur meine äußere Gestalt wahrnehme, sondern das innerste Selbst, das, was mein wahres Wesen ausmacht. Dieses Innewerden hat mit dem Geist zu tun. Ich kann meinen Kern nicht mit den Händen ertasten. Es braucht den Geist, der des eigentlichen Selbst innewird, der in das Selbst eintaucht, um es zu erfassen und zu verstehen. Sich selbst erkennen heißt, mich immer wieder zu "erinnern", nach innen zu gehen, in Berührung zu kommen mit mir selbst, mit dem ursprünglichen Bild, das Gott sich von mir gemacht hat. Das Selbst ist nicht etwas, das durch meine Lebensgeschichte entstanden ist. es ist vielmehr etwas Ursprüngliches, das unverfälschte Bild, das Gott sich von mir gemacht hat.
Es gibt im Deutschen die Redewendung "eine Frau erkennen". Damit übersetzt man den hebräischen Ausdruck der Bibel für den Geschlechtsverkehr. Auch hier wird deutlich, dass Selbsterkenntnis nicht im vielen Wissen über mich besteht, sondern darin, dass ich mit mir selbst eins werde, dass ich mit meinem wahren Selbst verschmelze, so wie Mann und Frau im sexuellen Akt miteinander verschmelzen und sich darin in ihrem tiefsten Sein erkennen. Ich kann mich selbst nur dann erkennen, wenn ich bereit bin, mich auf mein eigentliches Selbst einzulassen. Ich kann es nicht von außen betrachten. Ich muss eindringen in meinen Kern, dort wohnen, mit ihm in Berührung sein.
Für die Mönche war die Selbsterkenntnis die Vorbedingung, Gott zu erkennen. Selbsterkenntnis heißt für sie, die Gedanken und Gefühle, die Leidenschaften und Emotionen, die Bedürfnisse und Wünsche zu beobachten, die ständig in uns auftauchen und uns oft genug bestimmen. Nur wenn ich mich richtig sehe, werde ich die anderen erkennen können. Ohne ehrliche Selbsterkenntnis werde ich alles, was ich bei mir verdränge, auf die anderen projizieren. Ich werde meine unterdrückte Wut im anderen sehen, statt sie bei mir selbst zu erkennen. Selbsterkenntnis ist schmerzlich. Sie reißt uns die Maske vom Gesicht. Sie lässt uns in die Abgründe unserer Seele schauen, gerade auch in den Bereich des Unbewussten. Es ist verständlich, dass viele Menschen den Weg der Selbsterkenntnis scheuen. Er birgt für sie zu viele Gefahren in sich. Da braucht es den Engel der Selbsterkenntnis, der uns Mut macht, in die Tiefen unserer Seele hinab zu steigen und alles in uns wahrzunehmen, was sich unserem geistigen Blick darbietet. Der Engel befreit uns von der Angst vor den Dunkelheiten unserer Seele. Er nimmt uns an der Hand und geht mit uns. Er zeigt uns alles, was da in unserer Seele verborgen ist. Aber er bewertet es nicht. Er sagt uns zugleich: "Das ist du. Aber du darfst auch so sein. Halte alles, was du siehst, in das Licht und in die Liebe Gottes. Dann wird es verwandelt. Dann wird deine Selbsterkenntnis dir die Angst vor dir selber nehmen. Und sie wird dich bescheiden machen, dass du auch die Menschen um dich herum akzeptieren kannst, ohne sie zu verurteilen." Ein Mönchsvater wurde einmal von einem jungen Mönch gefragt, warum er ständig über andere urteile. Der Altvater sagte: "Weil du dich selbst nicht kennst. Wer sich selbst kennt, der urteilt nicht über andere." Wie der junge Mönchen den Altvater, so brauchst du den Engel, der dich behutsam zur Selbsterkenntnis führt. Dann wirst du weder dich noch einen anderen Menschen verurteilen.