Der Engel des Schweigens
"Reden ist Silber, Schweigen ist Gold", so sagt ein Sprichwort. Vielleicht hast du es auch schon erlebt, dass du schweigen konntest, wenn jemand dir Unrecht getan hat. Natürlich gibt es auch ein Schweigen, das nicht vom Engel des Schweigens kommt. Wenn du schweigst, obwohl du reden müsstest, dann kannst du damit Menschen verletzen. Oder wenn du in einer Gruppe schweigst, kannst du Macht ausüben. Die anderen wissen nicht, wo sie dran sind. Es gibt ein drückendes Schweigen, wenn keiner in der Gruppe etwas sagt. Dann entsteht eine eisige Atmosphäre, der jeder am liebsten entfliehen möchte. Manche sagen dann etwas Belangloses, um diesem dumpfen Schweigen zu entgehen. Manche verschweigen im Gespräch das Wichtigste. Man hat den Eindruck, über vieles gesprochen zu haben. Aber das Eigentliche ist nicht angesprochen worden. Es gibt offensichtlich nicht nur einen Engel des Schweigens, sondern auch einen Dämon, der uns durch Schweigen innerlich bedrückt und uns voneinander trennt. Elie Wiesel hat diese doppelte Erfahrung des Schweigens im Auge, wenn er schreibt: "Schweigen ist friedlich, voller Wohllaut, voller Verheißungen, voller Träume und voller Wahrheit. Aber ebenso sehr kann es Angst oder sogar Zorn hervorrufen."
Der Engel des Schweigens möchte dich in das Schweigen einführen, das heilt, das dir gut tut, das auch für die Menschen um dich herum zur Wohltat wird. Da ist das Schweigen über das, was dir anvertraut wurde. Wenn du verschwiegen ist, dann erzählen dir Leute gerne ihre Probleme. Sie können sich auf dich verlassen, dass du nichts weitererzählst. Oder du hast dich über jemanden geärgert. Aber du weißt, dass dein Sprechen ungerecht wäre. Denn der andere hat auch den Ärger in dir hochgespült, der noch von anderen in dir war. Du schweigst, damit sich deine aufgewühlten Emotionen beruhigen können. Erst wenn sich alles Trübe in dir gesetzt hat, fängst du an zu sprechen. Dein Sprechen kommt aus dem Schweigen und ist durch das Schweigen geläutert. Du kennst vielleicht auch Leute, die alles, was ihnen in den Kopf kommt, auch herausplappern müssen. Sie sind sehr anstrengend. Sie können nichts für sich behalten. Sie können keinen Augenblick still sein. Offensichtlich haben sie Angst vor dem Schweigen. Da kann dann auch nichts in ihnen wachsen. Sie kommen nicht in ihre Mitte, sie spüren ihre Seele nicht. Sie leben nur an der Oberfläche des Geschwätzes. Wenn du mit solchen Menschen zusammentriffst, dann freust du dich auf Zeiten des Schweigens, in denen du mit niemandem reden musst. Du genießt das Schweigen. Niemand will etwas von dir. Du kannst einfach nur sein, im Schweigen hineinhorchen auf das, was in dir hochkommen möchte.
Im Mönchtum hat das Schweigen drei Bedeutungen. Zum einen ist es ein Weg zur ehrlichen Selbstbegegnung. Im Schweigen taucht alles in mir auf, was ich sonst im Lärm des Alltags übergehe. Dieser erste Aspekt des Schweigens ist nicht immer angenehm. Der zweite Schritt des Schweigens ist das Loslassen. Wenn ich immer wieder über etwas spreche, wühle ich die Emotionen von neuem auf. Es gibt Menschen, die ständig über vergangene Verletzungen sprechen. Man kann ihnen kaum mehr zuhören. Denn das hat man alles schon oft gehört Da ist das loslassen wichtig. Im Schweigen - so sagen die Mönche - kann sich das Trübe klären, so wie beim Wein, der lange lagern muss, damit sich alles Trübe setzt. Die dritte Bedeutung des Schweigens ist für die Mönche das Einswerden mit Gott. Die Mönche üben das Schweigen, um ihre Seele für Gott zu öffnen, damit Gott darin einziehen kann. Dabei gibt es zwei Weisen, vor Gott zu schweigen. Ich sitze einfach vor Gott und genieße es, von ihm liebevoll angeschaut zu werden. Es ist wie bei Menschen, die sich leben. Sie sprechen miteinander, um sich einander näher zu kommen. Aber dann schweigen sie miteinander, nicht weil sie nichts mehr zu sagen haben, sondern weil die Gemeinschaft, die im Gespräch entstanden ist, durch weitere Sprechen zerredet würde. Sie schweigen miteinander und werden so auf tiefere Weise miteinander eins. Die andere Art des Schweigens vor Gott besteht darin, dass ich in den inneren Raum des Schweigens eintrete, in dem Gott schon in mir wohnt. In diesem Raum des Schweigens werde ich eins mit Gott und zugleich mit mir selbst. Da kann ich erleben, was Kierkegaard einmal das Baden der Seele im Schweigen genannt hat. Meiner Seele tut das Schweigen gut. Schweigen wird dann wie ein Liegen in der Badewanne. Aller Schmutz fällt von mir ab. Ich kann mich fallen lassen. Ich fühle mich eingehüllt in Gottes Liebe. In dieses Schweigen vor Gott möchte dich der Engel des Schweigens einführen.
Die Mönche sprechen davon, dass wir zwar mit dem Mund schweigen können, dass aber manchmal unser Herz ununterbrochen redet. Es macht sich ständig Gedanken über die anderen und urteilt über andere. Dann nützt das äußere Schweigen überhaupt nichts. Es geht um ein Schweigen des Herzens. Und das besteht vor allem darin, dass wir nicht über andere urteilen. In diesem Schweigen ebbt auch der Lärm unserer Gedanken ab. Auf einmal sind wir frei für den Augenblick. Ich wünsche dir, dass der Engel des Schweigens dir solche Augenblicke schenkt, in denen du ganz gegenwärtig bist und offen für den gegenwärtigen Gott. Nur wenn du schweigst, kannst du ganz im Augenblick sein. Sobald du das Denken anfängst, denkst du über etwas nach und verlässt den gegenwärtigen Augenblick. Genieße das Schweigen, das dir dein Engel gewährt, und horche nach dem Gott, der dein Schweigen mit seiner Liebe füllen möchte.