Der Engel der Nächstenliebe
Zeitungen berichten uns von Engeln der Nächstenliebe, die sich ganz und gar einsetzen für Kranke, Arme und Notleidende. Vor allem in der Dritten Welt begegnen uns solche Engel der Nächstenliebe, die ihr ganzes Leben in den Dienst der Armen stellen. Aber auch bei uns gibt es genügend Engel der Nächstenliebe. Da geht es einer Frau schlecht. Sie sieht keinen Ausweg mehr und beschließt, ihr Leben zu beenden. Da spricht sie ein Mensch an und kommt mit ihr ins Gespräch. Das war für sie ein Engel, der sie aus ihrer Selbstverstrickung befreit hat. Da ist ein alter Mann, der sich schwer tut, aus der Straßenbahn zu steigen. Eine junge Frau nimmt ihn an der Hand und hilft ihm. Der Mann erlebt sie als einen Engel. Solche Engel der Nächstenliebe sind offen für die Menschen um sich herum. Sie nehmen wahr, wo jemand Hilfe braucht. Und dann sind sie zur Stelle, ohne dass sie sich viele Gedanken machen über ihre guten Taten. Sie sind bereit, einzugreifen, wo es nötig ist. Die Voraussetzung für ihre Bereitschaft zu helfen ist der Mut, sich selbst vom anderen berühren und auch verwunden zu lassen. Denn es ist nicht immer einfach, einem zu helfen, der voller Bitterkeit und Wut ist. Da bekommt der Helfer viel negative Energie ab. Aber wenn er dem Engel der Nächstenliebe traut, dann ist die positive Energie, die ihm der Engel verleiht, stärker.
Wenn bei uns ein Priester von der Nächstenliebe predigt, dann reagieren viele eher allergisch darauf. Zu lange hat man im Christentum immer nur gefordert, den Nächsten zu lieben. Und man hat den Zusatz Jesu vergessen, dass wir ihn so lieben sollten wie uns selbst. Wir können den Nächsten nur lieben, wenn wir auch gut mit uns selbst umgehen. Manche möchten mit ihrer Nächstenliebe nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen. Andere gönnen sich nichts. Sie haben Angst, ihre Bedürfnisse einzugestehen und zu leben. Bei ihnen wird die Nächstenliebe nur zu einer Ideologisierung ihrer autoaggressiven Haltung, dass sie sich ja nichts gönnen dürfen. Solche Formen von Nächstenliebe helfen dem anderen nicht wirklich. Wer Opfer solcher Nächstenliebe wird, der fühlt sich vereinnahmt, als Objekt behandelt. Er hat das Gefühl, dass er dafür zeit seines Lebens dankbar sein muss, dass er abhängig bleibt von dem, der ihm einmal geholfen hat.
Der Engel der Nächstenliebe will uns in eine andere Art der Liebe zum Nächsten einführen. Es ist nicht die Nächstenliebe, die wir uns vornehmen, die wir als Leistung am Abend abbuchen können. Der Engel will uns vielmehr im Augenblick sensibel machen für den Nächsten, der uns braucht. Da ist eine alte Frau, die ihren Koffer kaum tragen kann. Ich gehe einfach zu ihr und helfe ihr, nicht weil ich heute bei der Gewissenserforschung ein gutes Werk vorweisen möchte, sondern weil es eben dran ist. Natürlich spüre ich auch in mir den Impuls, weg zu sehen und meinen Weg weiterzugehen. Der Engel der Nächstenliebe gibt mir den Impuls, hinzugehen. Aber wenn ich helfe, dann nicht, damit ich mir besonders gut erscheine, sondern weil die Bedürftigkeit der Frau einfach danach schreit. Es ist das Helfen, das Jesus im Blick hat, wenn er sagt: "Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut" (Mt 6,3). Die recht Hand, die bewusste Hand, hilft, ohne dass sie darüber reflektiert, ohne dass die linke Hand, die unbewusste Seite, davon Kenntnis nimmt. Meine gute Tag prägt sich nicht in mein Unbewusstes ein als Gefühl von moralischem Gutsein oder gar von Stolz, dass ich etwas Besonderes bin.
In unseren Großstädten werden heute alte Menschen von rechtradikalen Jugendlichen angepöbelt, und alle schauen weg. Da wird in der U-Bahn einer geschlagen, und keiner greift ein. Da bricht einer auf der Straße zusammen, und alle gehen vorüber. Da sehnen wir uns nach Engeln der Nächstenliebe, die nicht achtlos übersehen, was um sie herum geschieht, die einfach eingreifen, wo einer in Not ist, die auf einen zugehen, wenn er Hilfe braucht. Der Engel der Nächstenliebe ist an unserer Seite, wenn wir sehen, wie einer sich nicht mehr zu helfen weiß. Aber wir geben ihm oft keine Chance. Er gibt uns den Impuls, auf den anderen zuzugehen. Aber wir überhören ihn. Wir gehen weiter, wollen den Engel der Nächstenliebe von uns abschütteln, damit er uns in Ruhe lässt. Wenn wir dem Engel folgen und tun, wozu er uns ermutigt, dann erleben wir ein Gefühl von Freiheit und Freude. Dann spüren wir, dass die Nächstenliebe auch uns gut tut. Der dankbare Blick der alten Frau, des gestürzten Mannes, des hilflosen Kindes ist Geschenk genug. Wir bilden uns dann nichts ein auf unsere große Tat. Doch wir dürfen dankbar erfahren, dass die Nächstenliebe uns selbst beschenkt.
Ich wünsche dir viele positive Erfahrungen mit deinem Engel der Nächstenliebe. Er möge dir die Augen öffnen, damit du siehst, wo gerade du gefragt bist. Der Engel der Nächstenliebe wird dich in Berührung bringen mit einer Seite deiner Seele, die dir gut tut. Er lässt deine Seele aufblühen. Er erfüllt sie mit Liebe. Du wirst dich nicht überfordert oder verausgabt fühlen, wenn du dem Engel der Nächstenliebe folgst, sondern wirst spüren, wie deine Seele lebendig wird, wie sie weit wird und von Freude erfüllt wird. Ich wünsche dir aber auch dann, wenn du in Not bist, Engel der Nächstenliebe, die den Mut finden, auf dich zuzugehen, in deine Not einzutreten und mit dir ein Stück des Weges zu wandern.