Der Engel des Mitleids

Mitleid ist keine Schwäche, auch wenn im Dritten Reich die Propaganda das Gegenteil behauptete. Die Ablehnung des Mitleids in dieser kalten und harten Ideologie hatte ihr Wurzel in der Philosophie Friedrich Nietzsches, der den Satz prägte: „Mitleid ist Ansteckung“. Umgekehrt hat Schopenhauer das Mitleid als „alleinige echt moralische Triebfeder“ und als Basis aller Tugenden verstanden. Zwischen diesen beiden Extremen will dich der Engel des Mitleids geleiten. Deine Seele hat die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen und mit ihnen zu leiden, an ihrem Leid Anteil zu nehmen. Die Lateiner nennen diese seelische Qualität die „compassio“. Es ist nicht nur das Mitleiden, sondern auch das leidenschaftliche Engagement für den anderen.

Wenn du einem anderen helfen willst, dann musst du mit ihm fühlen und leiden können. Aber du brauchst zugleich auch eine gewisse Distanz zu seinem Leiden. Wenn du mit seinem Leiden gleichsam verschmilzt, wenn du keine Grenze hast zu seinem Leid, dann gehst du unter im Meer seines Leidens, ohne ihn daraus retten zu können. Es gibt ein Mitleid, das keine Grenze kennt. Das Mitleid, das Jesus in der Bibel meint, ist anders. Ich kann mein Herz dem anderen nur öffnen, wenn ich in meiner Seele zu Hause bin, wenn ich in mir einen festen Stand habe, wenn ich in Gott ruhe. Wenn ich mit dem anderen grenzenlos mitleide, dann bedaure ich mich selbst, wie schlimm die Welt ist. Aber ich werde das Leid dadurch nicht lindern. Im Griechischen heißt Mitleid „Sympatheia“. Mitleid bedeutet also Sympathie haben zu einem Menschen, bereit zu sein, mit ihm zu fühlen, ihn gerne zu haben. Nur einem sympathischen Menschen werde ich helfen können. Einem unsympathischen Menschen gegenüber verschließe ich mich. Dann gelingt auch kein Gespräch. Dann werde ich mich nicht so einlassen können, dass der andere daraus Nutzen zieht.

Manchmal klingt Mitleid nach Herablassung. Wir schauen mitleidig auf die Armen und Kranken. Aber wir leiden nicht wirklich mit. Es gibt ein Mitleidslächeln, das verletzt. Es kommt von oben herab. Es bedauert die armen Leidenden. Aber es ist nicht bereit, wirklich mit den Menschen zu leiden und sich auf ihr Leid einzulassen. Paulus weiß, dass wir als Menschen und als Christen aufeinander bezogen sind. Wenn „ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit“ (1 Kor 12,26). Wer echtes Mitleid zeigen will, muss leidensfähig sein. Wir sind heute in Gefahr, dass wir uns gegenüber der Flut von Schreckensmeldungen abschotten, weil wir soviel Leid auf einmal gar nicht verkraften. Wir sehen das Leid nicht unmittelbar, sondern durch das Medium des Fernsehens. Damit aber ist es weit weg von uns. Mitleid verlangt, dass ich mit den Menschen bin, die leiden, das ich bereit bin, meine Zeit und mein Herz mit ihnen zu teilen. Teilen heißt aber nicht, das ich mit dem Leid des anderen verschmelze. Wenn ich mein Herz mit dem anderen teile, dann bleibt der eine Teil meines Herzens vom Leiden unberührt. Er kann auf das Leid schauen und überlegen, wie man Abhilfe schaffen kann. Der andere Teil öffnet sich für das Leid, fühlt mit, läst den anderen bei sich eintreten. So kann ein Dialog im Leiden entstehen, der das Leiden lindert und zugleich nach Wegen Ausschau hält, wie das Leid überwunden werden kann.

Gerade in unserer Zeit der Leidverdrängung brauchen wir den Engel des Mitleids, oder wie Max Frisch ihn nennt, den „Engel der Sympathie“, um das Leid der Welt anzunehmen und zu verwandeln. Ich wünsche dir, dass der Engel des Mitleids deine Seele beflügelt, dass er sie in eine Schwingung versetzt, die mit der Seele des Notleidenden neben dir mitschwingt. So kannst du das Leid des anderen spüren, mit ihm durch sein Leid gehen und ihm so einen Weg aus seiner Not heraus ermöglichen. Du lässt dich dann nicht von den Schwierigkeiten der anderen mit nach unten ziehen, sondern kannst sie durch dein Mitfühlen verwandeln in einen Weg zu neuem Leben.