Der Engel des Glaubens

Um den Engel des Glaubens zu verstehen, ist es hilfreich, die verschiedenen Sprachen zu befragen. Jede Sprache drückt in einem Wort eine Erfahrung aus. Das deutsche Wort „glauben“ kommt von der Wurzel „liob“ und heißt eigentlich: „für lieb halten, gutheißen, das Gute sehen“. Glauben ist also eine ganz bestimmt Sicht der Wirklichkeit. Ich sehe bewusst das Gute in der Welt und in den Menschen. Das lateinische Wort „credere“ und das griechische Wort „pisteuein“ beziehen sich mehr auf das religiöse Verhalten zu Gott. „Credere“ und „pisteuein“ haben jeweils zwei Bedeutungen: „für wahr halten und trauen, vertrauen“. Für die Griechen hängt der Glaube eng zusammen mit dem Urvertrauen in die Welt. Glauben heißt, dass ich diese Welt in Gottes guter Hand weiß und darum darauf vertraue, dass auch mit meinem Leben alles gut wird. Und glauben ist für die Griechen ein religiöser Akt. Er hat mit der Beziehung zu Gott zu tun. Dabei geht es aber nicht darum, ob ich jetzt an Gott glaube oder nicht, ob ich den Argumenten für eine Existenz Gottes glaube oder nicht. Glaube ist vielmehr nach einem Wort des evangelischen Theologen Paul Tillich „das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht“. Ohne diesen Glauben, so meint Ladislaus Boros, gibt es kein echtes Menschsein. Dieser Glaube nimmt unsere ganze Seele in Anspruch. Im Glauben fassen wir unsere ganze Person zusammen und lassen uns in Gott hinein los, in den eigentlichen Urgrund dieser Welt.

Das hebräische Wort für „glauben“ mein ein Feststehen, Festigkeit, Gewissheit. Der Hebräerbrief hat das jüdische Verständnis des Glaubens aufgegriffen in seiner Definition: „Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1). Glaube meint ein Verankertsein der Seele in der unsichtbaren Welt, die jenseits jeglicher Beweisbarkeit liegt. Für den Apostel Paulus gehört der Glaube entscheidend zum Menschsein. Glaube steht für ihn vor allem im Gegensatz zur eigenen Leistung. Wer glaubt, so meint Paulus, der macht sich fest in Jesus Christus und findet dort seinen wahren Wert. Er muss diesen Wert nicht mehr durch eigene Leistung beweisen. Glaube ist für ihn eine neue Weise zu leben. Es ist ein Leben aus dem Vertrauen auf Gott, vor dem ich so sein darf, wie ich bin, der mir meinen wahren Wert schenkt.

Im Johannesevangelium begegnet uns ein anderes Verständnis von Glauben. Da wird uns im Glauben die eigentliche Wirklichkeit enthüllt. Wir erkennen das Hintergründige, die jenseitige Welt, die Welt Gottes, die in Jesus Christus in unsere Welt eingedrungen ist. Glaube ist Erkennen, „gnosis“, wie die Griechen sagen. Johannes antwortet mit seinem Glaubensbegriff auf die Sehnsucht der Gnosis. Gnosis war eine breite Strömung am Ende des 1. Jahrhunderts, ähnlich unserer New-Age-Bewegung. Sie sehnte sich nach Erleuchtung. Der Schleier, der über allem liegt, möge endlich weggezogen werden, damit wir durchblicken, damit wir das Eigentliche erkennen. Im Glauben, so sagt uns Johannes, erkennen wir die Wahrheit. Da geht uns auf, was uns eigentlich trägt und woraus wir leben. Dieser Glaube befreit uns vom Verhaftetsein im Vordergründigen, in Leistung und Anerkennung, in Beliebtsein und Starksein. Wir leben aus einer Wirklichkeit, die uns diese Welt nicht streitig machen kann. So hat Glaube immer mit Freiheit zu tun.

Du siehst, wie sehr die Menschen über den Glauben nachgedacht haben. Aber was erhoffst du dir vom Glauben? Denkst du bei Glauben sofort daran, dass du alles für wahr halten musst, was die Kirche lehrt? Oder heißt für dich glauben vor allem, an die Existenz Gottes zu glauben gegen alle Argumente des Verstandes, die dir deine Umgebung vorhält, wenn du dich als gläubig bezeichnest? Ist dein Glaube von Zweifeln bedrängt, ob das mit Gott und Jesus Christus nicht alles Einbildung ist? Der Engel des Glaubens möchte dich nicht überzeugen, dass du alles glauben sollst, was dir die Kirche sagt. Er will dich vielmehr in eine neue Weise zu leben einführen. Er möchte dir die Augen öffnen, damit du das Geheimnis hinter allen Dingen siehst, dass du mit der unsichtbaren Welt in Berührung kommst, mit der deine Seele immer schon in Kontakt ist. Der Glaube entspricht deiner Seele. In ihm kann sie atmen, in ihm fühlt sie sich zu Hause.

Der Engel des Glaubens möchte dich befreien von deinem Zwang, dich immer selbst beweisen, immer alles richtig machen und deine Daseinsberechtigung durch gute Werke erkaufen zu müssen. Und der Engel des Glaubens möchte dich in die Welt Gottes hinein begleiten. Er möchte den Schleier wegziehen, der über allem liegt, damit du die tiefste Wahrheit deines Lebens erkennst, die Wahrheit, dass Gott da ist, dass Gott dich liebt, dass Gottes Liebe dich durchdringt und dich einhüllt. Ich wünsche dir, dass der Engel des Glaubens bei dir ist, wenn dich Zweifel befallen oder wenn du dich hilflos fühlst gegenüber den rationalen Erklärungen deiner Bekannten, die dir beweisen möchten, dass Gott doch nur eine Einbildung ist, die man heute in unserem aufgeklärten Jahrhundert beiseite legen müsste. Habe keine Angst vor dem Zweifel. Der Zweifel gehört zu uns und unserem Glauben. Glaube ist immer nur überwundener Zweifel. Aber ohne diese Überwindung des Zweifels gibt es kein echtes Menschsein. Ohne sie, so meint Ladislaus Boros, „schließt sich der Mensch in sich selbst hinein, wird klein, betrachtet seine Gegenwart als Abschluss, geht im Gehabten, im „Immer-schon-Bekannten“ und Gewöhnlichen auf“. Trau dem Engel des Glaubens. Er zeigt dir, dass das Unsichtbare genauso wirklich ist wie das Sichtbare, dass Gott dein Leben trägt und dass du in Gottes Hand bist und in Gott feststehen kannst inmitten aller Stürme des Lebens.