Der Engel der Gewaltlosigkeit

Martin Luther King war einer der überzeugendsten Propheten der Gewaltlosigkeit in unserer Zeit. Er kämpfte durchaus gegen die ungerechten Gesetze der Rassentrennung und Rassendiskriminierung. Aber er leistete gewaltlosen Widerstand, mit dem er den Gegner nicht vernichten, sondern überzeugen und gewinnen wollte. Die unbewaffnete Liebe ist für Martin Luther King die einzige Kraft, die den Hass besiegen kann. Normalerweise reagieren wir gegen die Gewalt mit Gegengewalt. So entsteht ein Teufelskreis von immer größerer Gewalt. Gewalt ruft Gewalt hervor. Wer aber den, der Gewalt ausübt, liebt, kann ihn auf neue Weise besiegen, Er wird nicht nur seine Gewalt ins Leere laufen lassen, sondern auch sein Herz gewinnen. Dann aber ist Versöhnung möglich. Und die Gewalt hat ein Ende. Martin Luther Kind ruft seinen Gegnern zu: „Werft uns ins Gefängnis, wir werden euch trotzdem lieben! Wir werden so lange an euer Herz und eure Seele appellieren, bis wir auch euch gewonnen haben.“

Bei Gewaltlosigkeit brauchen wir aber nicht nur auf die politischen Auseinandersetzungen zu schauen. Denn dann sind wir allzu leicht in Gefahr, mit dem moralischen Zeigefinger auf andere zu zeigen und sie anzuklagen. Es gibt genügend Spiele der Gewalt in unserem alltäglichen Miteinander. Gewalt kommt von „walten = stark sein, beherrschen“. Wir üben Gewalt, wenn wir unseren Ehepartner beherrschen, wenn wir seine Schwächen ausnützen und ihn mit unserer Stärke klein machen. Ich kenne die empfindliche Stelle des Partners. Wenn mich der andere ärgert, dann weiß ich genau, wie ich ihn verletzen kann, so dass er verstummt und nichts mehr zu erwidern hat. Das ist Gewalt, zwar keine körperliche Gewalt, aber doch psychische Gewalt. Psychologen sprechen von emotionaler Erpressung, die häufig zwischen Ehepartnern abläuft. Da erpresst der Mann die Frau, wenn sie ihre Freundin besuchen will, indem er ihr mit Selbstmord droht oder mit dem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung oder mit Krankheit oder indem er ihr Schuldgefühle vermittelt, dass sie egoistisch und egozentrisch sei und kein Gespür für seine Gefühle habe. Emotionale Erpressung ist Gewalt.

Der Engel der Gewaltlosigkeit will dich zu einem anderen Verhalten befähigen. Du vergiltst die Verletzung nicht, indem du den anderen kränkst. Aber du frisst auch nicht einfach nur die Verletzung in dich hinein. Gewaltlosigkeit ist nicht Nachgiebigkeit und Schwäche. Du kämpfst durchaus, aber eben gewaltlos. Du verzichtest auf Machtspiele. Du siehst die Verletzung an, versuchst dich zu wehren, indem du innere Distanz dazu schaffst. Aber aus der Distanz heraus versuchst du den anderen zu lieben. Er hat dich nur verletzt, weil er selbst verletzt ist. Wenn du ihn liebst, dann bist du in der stärkeren Position. Seine Worte haben dich zwar verletzt. Aber du bleibst nicht in der Verletzung stecken. Du kannst dich von der Verletzung innerlich distanzieren. Du traust Gott zu, dass er deine Verletzung heilt. Und aus diesem Vertrauen heraus kannst du auch den lieben, der dich gekränkt hat. Das ist Gewaltlosigkeit, die den Teufelskreis von Verletzung und Gegenverletzung durchbricht und dem anderen ermöglicht, dass seine Kränkungen heilen. Dann hast du ihn für dich gewonnen und du hast ihn für das Leben und die Liebe gewonnen. Bitte den Engel der Gewaltlosigkeit, dass er dir Phantasie schenke, wie du auf die Spiele der Gewalt gewaltlos antworten und wie du den Gewalttäter durch Liebe gewinnen und von seiner Gewaltfixierung befreien kannst.