Der Engel der Gastfreundschaft
Gastfreundschaft war den Menschen der Antike heilig. Griechen, Juden und Römer übten in gleicher Weise Gastfreundschaft. Denn im Gast, so glaubten sie, poche Gott selbst an ihre Pforte, um Einlass zu finden. Und Gott würde den Gastgeber mit göttlichen Gaben beschenken. So erzählt es die Sage von Philemon und Baucis, einem alten Ehepaar, das im Fremden Zeus selbst aufgenommen hat. So beschreibt Lukas Jesus, den göttlichen Wanderer, der immer wieder bei den Menschen einkehrt, um sie mit göttlicher Güte und Barmherzigkeit zu beschenken. Die frühen Christen übten Gastfreundschaft. Ohne diese Tugend hätte sich wohl das Christentum kaum in der römischen Welt verbreitet. Der Hebräerbrief mahnt die lau gewordenen Christen am Ende des l. Jahrhunderts: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt" (Hebr 13,2). Sowohl in der Bibel als auch in der griechischen und römischen Sagenwelt gibt es zahlreiche Geschichten, in denen Menschen, ohne auf Gewinn zu zielen, Engel beherbergt haben. Ihre Gastfreundschaft brachte ihnen einen Engel ins Haus, ohne dass sie darum wussten. Von diesen Geschichten her gibt es eine enge Verbindung zwischen Gastfreundschaft und den Engeln. Die Menschen, die wir aufnehmen, können für uns zum Engel werden, der uns reichlich belohnt.
Gerade in unserer Zeit, da es so viele Fremde und Heimatlose gibt, Flüchtlinge und Asylanten, ist die Gastfreundschaft ein Gebot der Stunde. Die Gastfreundschaft hält den Fremden heilig. Sie weiß darum, dass der Fremde uns etwas zu sagen hat, dass Gott selbst durch ihn zu uns sprechen kann. So hat es der hl. Benedikt gesehen, der die Gastfreundschaft für seine Mönche gefordert und damit eine Kultur der Gastfreundschaft für das ganze Mittelalter entwickelt hat. Der Abt soll genau hinhören, wenn der Fremde etwas an seiner Gemeinschaft kritisiert. Es könnte ja sein, dass Gott selbst den Fremden geschickt habe, um ihn auf etwas aufmerksam zu machen, was er bisher übersehen hat. Gastfreundschaft ist nie ein einseitiges Schenken. Jeder wird beschenkt, wenn ein Raum eröffnet wird, in dem sich Menschen begegnen können, die bisher einander fremd waren.
In unserer Familie wurde die Gastfreundschaft immer hoch gehalten. Mein Vater lud Weihnachten immer ausländische Studenten ein, die in einem Münchner Kolleg wohnten. Für uns Kinder war das immer spannend, wenn da ein junger Mann aus Pakistan oder Indien zu Gast war. Meine Geschwister setzen diese Tradition fort. Und sie haben im Ausland selbst oft großherzige Gastfreundschaft erfahren. So entsteht ein Netz der Liebe zwischen den Völkern, das Vorurteile abbaut und zur Freude aneinander führt. Meine Neffen und Nichten freuen sich daran, den Fremden ihre Familienrituale zu erklären. Da diskutieren sie dann heiß darüber, warum sie diese Rituale feiern, woraus sie leben und was der Sinn ihres Lebens ist. Und sie hören gut zu, wie die anderen ihr Leben verstehen. So entsteht ein Austausch, der beide Seiten bereichert.
Der Engel der Gastfreundschaft möchte Dir die Angst vor den Fremden nehmen. Und er will Dich befreien von dem Druck, dass Du ein besonders guter Gastgeber sein musst, dass Du andere Gastgeber mit Deinem Kochen oder mit Deinem Hausschmuck übertreffen musst. Du sollst nicht vieles vorsetzen, sondern Dich selbst einbringen, damit Begegnung möglich wird. Dann wirst Du sehen, wie die Gastfreundschaft Dich selber beschenkt. Du wirst erfahren, wie Menschen leben und woraus sie leben. Du wirst dankbar sein für das Leben, das Dir geschenkt wurde, für die Heimat, die Du gefunden hast und die auch für andere zu einem Ort werden kann, in dem sie sich daheim fühlen. Wenn Menschen sich bei Dir geborgen fühlen, wenn sie spüren, dass sie in Deinem Haus ohne Angst sie selbst sein dürfen, dann wirst Du spüren, wie der Engel der Gastfreundschaft Dir viele Engel ins Haus schickt, die Dich beschenken.