Der Engel der Freundschaft
In Gesprächen mit Jugendlichen erlebe ich immer wieder, wie sehr sie sich nach einem Freund oder einer Freundin sehnen. Ein Mädchen möchte eine Freundin, mit der sie alles teilen kann, der sie erzählen kann, wie es ihr in der Schule oder daheim mit den Eltern ergangen ist. Ein Junge möchte einen Freund, der mit ihm durch dick und dünn geht. Und wenn sie keinen Freund oder Freundin haben, fühlen sie sich einsam, als Außenseiter, vom Leben abgeschnitten. Auch erwachsene Männer und Frauen sehnen sich nach Freunden, auf die sie sich verlassen können, die mit ihnen ihre Freuden und ihr Glück teilen, die ihnen aber auch zur Seite stehen, wenn es ihnen nicht gut geht. Für viele ist es beglückend, einen Seelenfreund, eine Seelenfreundin zu haben. Bei ihnen spüren sie, dass sie die gleiche Wellenlänge haben, dass es zwischen ihnen einfach strömt, dass sie sich gegenseitig bereichern und inspirieren. Im Gespräch mit dem Seelenfreund versteht man die eigene Seele besser, da wird einem der Reichtum der eigenen Seele erst bewusst.
Die Sehnsucht nach Freundschaft durchzieht die gesamte abendländische Geschichte. Schon die Griechen sagen das Lob der Freundschaft. Augustinus lebte aus der Freundschaft. Das gab seinem Leben erst Sinn. So sagt er von der Freundschaft: "Sine amico nihil amicum = ohne Freund kommt einem nichts freundlich vor." Aelred von Rieveaulx hat im Mittelalter ein eigenes Buch über die Freundschaft geschrieben. Für ihn erfahren wir in der Freundschaft zu einem Menschen zugleich die Freundlichkeit Jesu Christi, die uns im Antlitz des Freundes begegnet. Bei einem Freund darf ich sein, wie ich bin. Ich werde nicht bewertet. Alles in mir darf sein, alles in mir ist angenommen und geliebt. Freundschaft ist immer gegenseitig. Lieben kann ich auch einen Menschen, der meine Liebe nicht erwidert. Aber Freundschaft braucht immer die Erwiderung des anderen. In der Freundschaft will ich den anderen nicht besitzen. Ich lasse ihn in seiner Andersartigkeit gelten. Und ich lasse ihm den Raum der Freiheit, den er braucht.
Freundschaft ist für Thomas von Aquin eine Tugend. Deshalb können schlechte Menschen einander nicht wirklich zum Freund werden. Freundschaft setzt immer den Glauben an das Gute im anderen voraus. Und Freundschaft verlangt, dass ich mich läutere, damit die Beziehung zum Freund oder zur Freundin immer tiefer wird. Alles, was mein Menschsein behindert, wie Ressentiments, Vorurteile, Hass, Lieblosigkeit, Egoismus, das wird auch die Freundschaft beeinträchtigen. Daher verlangt die Freundschaft, dass ich an mir arbeite. Denn in der Freundschaft möchte ich dem anderen immer näher kommen, ihn immer besser verstehen und zugleich mich seiner Freundschaft würdig erweisen. So steckt in der Freundschaft der Impuls, in meiner Menschlichkeit zu wachsen. Nur so kann die Liebe zwischen zwei Freunden aufblühen und alle Bereiche der Seele durchdringen.
Viele klagen darüber, dass sie keinen Freund haben. Freundschaft kann man nicht machen. Sie ist immer ein Geschenk. Bitte deinen Engel der Freundschaft, dass er dir Menschen zur Seite stellt, mit denen eine Freundschaft wachsen kann. Und bitte ihn, dass du zur Freundschaft fähig wirst, dass du den Mut findest, auf den zuzugehen, der dich anzieht und bei dem du spürst, dass er dich bereichern könnte. Vielleicht hast du schon einen guten Freund oder eine gute Freundin. Aber du hast Angst, sie zu verlieren. Vielleicht denkst du, du bist zu kompliziert für deinen Freund oder deine Freundin, du bist der Freundschaft nicht wert, weil du sie mit deinen Problemen überforderst. Da brauchst du den Engel der Freundschaft, der dir Vertrauen schenkt, dass deine Freundschaft auch durch die Konflikte und Missverständnisse hindurch immer tiefer wird, dass sie Bestand hat, auch wenn sie durch Spannungen hindurchgeht. Der Engel der Freundschaft will dich immer tiefer einführen in die Kunst des Liebens und in das Geheimnis der Freundschaft. Und er will dich die Dankbarkeit lehren, wenn du einen Freund gefunden hast, in dessen Nähe dir alles freundlich vorkommt.