Der Engel des Freimuts
Mit "Freimut" übersetzen wir den griechischen Begriff der „parrhesia". Für die Griechen war die „parrhesia" Errungenschaft ihrer Demokratie. Es bedeutete Redefreiheit, Offenheit, den Mut, das zu sagen, was man denkt. Für uns ist das Recht auf Redefreiheit selbstverständlich. Aber trotzdem mangelt es uns oft genug am Freimut. Unser Gemüt ist nicht frei, das auszudrücken, was es fühlt. Wir richten uns in unserem Reden nach den Erwartungen der anderen. Wir denken uns aus, was der andere denken könnte, wenn wir das oder jenes sagen. Wir sind diplomatisch und überlegen uns genau, welche Folgen unsere Worte haben könnten. So sagen wir nicht, was uns das Gemüt eingibt, sondern was die anderen von uns erwarten. Wir sind nicht frei, sondern abhängig von den Erwartungen und Reaktionen der anderen. Damit aber machen wir uns wieder zu Untertanen von irgendwelchen Königen und Kaisern, nicht von politischen Königen, doch von den Menschen, denen wir Macht über uns geben.
Ich ärgere mich über einen Mitarbeiter. Aber ich habe nicht den Mut, ihm frei heraus zu sagen, was mich an ihm stört. Ich rede lieber mit anderen über ihn, schimpfe, wie unmöglich er ist, wie er mir das Leben schwer macht. Da müsste ich auf den Engel des Freimuts hören, der mir den Impuls gibt, offen anzusprechen, was zwischen uns steht. Freimut besteht allerdings nicht darin, unkontrolliert meinen ganzen Ärger auszubreiten und dem anderen alles an den Kopf zu werfen, was sich in mir angestaut hat. Denn das wäre kein Zeichen von Freiheit. Freimut meint, frei zu sein von der Angst vor den Reaktionen des anderen, aber genauso auch frei zu sein von dem inneren Druck, der sich in mir aufgebaut hat. Ich muss in innerer Freiheit entscheiden, was ich sagen möchte, was für unsere Beziehung und für den Konflikt angemessen ist. Wenn ich dem anderen alles an den Kopf werfe, was in mir ist, dann bin ich nicht frei für den anderen. Ich werde vielmehr bestimmt von den Ressentiments, die sich in mir angesammelt haben. Ich spreche dann nicht zu meinem Mitarbeiter, sondern sehe in ihm alle Menschen, die mich einmal geärgert haben: Vater, Mutter, Lehrer, Pfarrer, Schulkameraden, Freunde, Feinde usw. Ich habe keinen freien Blick für den anderen, sondern sehe ihn durch meine von Verletzungen getrübte Brille.
Ich spüre, dass ein Freund, eine Freundin in seelischen Nöten steckt. Irgendetwas blockiert sie. Es geht ihnen nicht gut. Ich sehe, wie sie an ihrer Wahrheit vorbei leben. Aber ich traue mich nicht, sie anzusprechen. Ich denke, vielleicht machen sie schon Therapie. Dort werden sie sicher alles ansprechen, was sie belastet. Vielleicht ist es ihnen unangenehm, wenn ich sie so offen auf ihre Situation hinweise. Vielleicht verletze ich sie damit. Und schon verlässt mich mein Mut, und ich bin lieber still. Da brauchte ich den Engel des Freimuts, der mir Mut macht, die Worte zu sagen, die mir auf der Zunge liegen. Ich muss auch während des Gesprächs immer wieder mit dem Engel des Freimuts Kontakt aufnehmen, damit ich nicht sofort bei der ersten abweisenden Reaktion aufgebe. Der Engel des Freimuts zeigt mir, dass der Widerstand des Freundes nur Ausdruck seiner Sehnsucht ist, seine Situation wirklich einmal offen auszusprechen. Der Engel des Freimuts schenkt mir einen langen Atem, der warten kann, bis der andere die Schwelle seiner Angst überschreitet. Der Engel an meiner Seite bringt mich in Berührung mit der inneren Ahnung meiner Seele, dass die eigene Freiheit auch die Freiheit des anderen hervorlockt. Und so ermöglicht der Engel der Freimut ein Gespräch, vor dem wir beide Angst hatten, das aber nachher bei uns ein Gefühl der Freiheit, der Freude und der Dankbarkeit hinterlässt.