Der Engel der Diskretion

Diskretion sprechen wir einem Menschen zu, wenn er etwas für sich behalten kann, was wir ihm anvertraut haben. Er hält sich zurück. Er plappert nicht aus, was wir ihm im Vertrauen gesagt haben. Solche Diskretion hat etwas Vornehmes. Wir fühlen uns bei einem diskreten Menschen sicher. Er wird uns auch keine unangenehmen Fragen stellen. Er wird uns vor anderen nie bloßstellen. Der indiskrete Mensch ist taktlos und zudringlich. Er dringt in Bereiche in uns vor, die ihm nicht zustehen. Wir schätzen bei unseren Freunden die Diskretion. Wir wissen, bei ihnen ist der innere Raum, in den wir niemanden eindringen lassen möchten, auch sicher. Sie werden nicht unnötig bohren. Und wenn wir eine Andeutung machen, dass wir darüber nicht sprechen möchten, dann werden sie es respektieren.

In jedem von uns ist so ein Drang, das, was uns anvertraut wurde, wenigstens dem besten Freund zu sagen. Oder wir sagen es einigen weiter unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Doch das Siegel der Verschwiegenheit ist das brüchigste, das man sich denken kann. Denn wenn ich etwas unter diesem Siegel weitererzähle, habe ich ja schon das Siegel gebrochen. Daher müssen wir den Engel der Diskretion bitten, dass er uns davor bewahre, auszuplaudern, was andere uns erzählt haben. Sonst wissen wir irgendwann nicht mehr, wer uns was erzählt hat und unter welchen Umständen. Ein Dialog muss bei den beiden Dialogpartnern bleiben, sonst wird es eine Talkshow. Dialog braucht den Schutz, dass die Worte unter uns bleiben. Nur dann kann er gelingen. Sonst müssen wir ständig Angst haben, dass der andere weitererzählt, was wir ihm im Verborgenen sagen.

Diskretion kommt eigentlich von discernere, und das heißt: unterscheiden. Für den hl. Benedikt und für die frühen Mönche war daher Diskretion die Gabe der Unterscheidung und die Gabe des rechten Maßes. Der Engel der Diskretion möchte uns daher einführen in die Kunst, die Geister zu unterscheiden, ob sie aus Gott kommen oder vom Bösen. Die frühen Mönche haben Kriterien entwickelt, um zu unterscheiden, ob ein Gedanke aus Gott kommt oder von einem Dämon. Immer wenn ein Gedanke von Gott kommt, bewirkt er inneren Frieden und stärkt die eigene Lebendigkeit. Wenn ein Gedanke aber von den Dämonen kommt, dann erzeugt er in uns Angst und Enge und lähmt uns. Aber es gilt nicht nur, die eigenen Gedanken zu unterscheiden. Der Engel der Diskretion möchte uns auch sensibel machen, damit wir unterscheiden können, was jetzt notwendig ist und was nur die Erwartungen irgendwelcher Menschen erfüllt. Was ist jetzt Gottes Wille und was ist mein eigener Ehrgeiz? Wo ist ein innerer Impuls von Gott, und wo wird er mir nur von meinem strengen Über-Ich eingegeben? Ist meine Reaktion auf diesen oder jenen Menschen angemessen, oder entspricht sie nur meinen alten Lebensmustern? Wir brauchen den Engel der Diskretion immer wieder, um zu spüren, was jetzt im Augenblick angemessen ist. Er zeigt uns, wo wir den anderen richtig wahrnehmen und wo wir ihn nur durch die Brille unserer Projektionen sehen.

Ich wünsche dir, dass dir der Engel des Diskretion immer beisteht, damit du angemessen reagierst, redest und dich so entscheidest, dass daraus Lebendigkeit und Freude entspringen. Und ich wünsche dir den Engel der Diskretion bei allen Gesprächen. Er befähigt dich, dich ganz auf deinen Geschäftspartner einzulassen, ohne dein Wissen einfließen zu lassen, das du von anderen über ihn erhalten hast. Der Engel der Diskretion wird dir viele Menschen zuführen, die dir Vertrauen schenken. Denn in uns allen steckt die Sehnsucht nach diskreten Menschen, nach Menschen, die unterscheiden können, was sie uns sagen und was nicht.