Der Engel der Besonnenheit
Besonnenheit kommt von „sinnen“. Sinnen meint ursprünglich: „gehen, reisen,
streben, begehren“. Die Germanen haben offensichtlich die Erfahrung gemacht,
dass sie durch Reisen und Wanderungen Besonnenheit lernen. Da muss man das
richtige Augenmaß haben, um sich nicht zu überfordern. Erst unter dem Einfluss
des lateinischen „sentire“ bekommt das Wort „sinnen“ die Bedeutung von „fühlen,
die Gedanken auf etwas richten, nachdenken“. Besonnen ist der, der sich besinnt,
der mit seinen Sinnen denkt und nicht nur mit dem Kopf. Das griechische Wort,
das wir mit Besonnenheit übersetzen, „sophrosyne“, meint, dass einer gesunde
Sinne hat (saos und phrenes). Besonnen ist also einer, der in seinen Sinnen ist,
der alles um ihn herum mit seinen Sinnen wahrnimmt. Bei den Griechen kann die
Besonnenheit im Sinne von Mäßigung und Selbstbeherrschung, von kluger
Zurückhaltung, von Keuschheit, von Zucht und von Weisheit gebraucht werden. „Sophrosyne“
ist ein zentraler Begriff der griechischen Tugendlehre. Platon nennt sie als
erste der vier Kardinaltugenden.
Besonnenheit ist das Gegenteil von Unbesonnenheit und Leichtsinn. Unbesonnen ist
der Mensch, der gleich beim ersten Impuls handelt, ohne sich Zeit zur Besinnung
zu nehmen. Leichtsinnig ist einer, der sich treiben lässt, der sich keine Sorgen
und Gedanken macht. Für den deutschen Philosophen Herder ist die Besonnenheit
das entscheidende Merkmal, das den Menschen zum Menschen macht. Besonnenheit
besteht in der Fähigkeit, zwischen dem Reiz und der Antwort einen Augenblick
innezuhalten. Die Pause zwischen dem Impuls und der Handlung gibt uns den Raum,
uns zu besinnen. Und die Besinnung führt zu einer freien Entscheidung. Sonst
würden wir vom Impuls bestimmt. Der Engel der Besonnenheit lädt dich immer dann,
wenn du sofort regieren möchtest, zur Besinnung ein. Er bewahrt dich davor, die
Besinnung zu verlieren und besinnungslos herumzutoben. Er hebt den Finger und
erinnert dich daran, erst einmal ruhig durchzuatmen, damit du dich selbst wieder
spürst, damit du deine Sinne wahrnimmst, deine äußeren Sinne wie das Hören und
riechen, aber auch deine inneren Sinne. Der Engel möchte dich dazu ermutigen,
deinen Sinnen zu trauen. Wenn du richtig hinhörst, wirst du nicht nur die Worte
hören, die dich provozieren, sondern auch die Zwischentöne, die mitschwingen,
die Sehnsucht und den Schrei nach Zuwendung. Dann wirst du anders reagieren.
Wenn du die kritischen Worte sofort auf dich beziehst und dich rechtfertigen und
verteidigen möchtest, dann hast du schon verloren. Dann hörst du nicht richtig.
Du bist nicht besonnen. Du bist nicht in deinen Sinnen, sondern nur in deinen
Emotionen. Und dann bestimmt der andere dich. In deinen Sinnen sein heißt auch,
wirklich hinschauen, was du siehst. Vielleicht siehst du hinter der fröhlichen
Fassade die tiefe Traurigkeit. Oder du siehst ein Lächeln, obwohl der andere von
seinen Enttäuschungen und Verletzungen erzählt. Was du siehst, gibt dir die
Möglichkeit, angemessen zu reagieren.
Besonnen sein heißt auch: auf die inneren Sinne hören. Du kommst in eine
Gesprächsrunde und fühlst dich unwohl. Du begegnest einem Menschen, der dir
Komplimente macht. Aber du hast ein ungutes Gefühl. Der andere schlägt dir ein
Geschäft vor, das sehr vernünftig klingt. Aber in deinem Magen spürst du, dass
da etwas nicht stimmen kann. Dann vertrau deinem inneren Sinn. Setze dich nicht
unter Druck, dass du dich dem anderen mit Argumenten erklären musst. Du musst
gar nichts erklären und gar nichts rechtfertigen. Trau deinem inneren Sinn. Dort
in deinem Innern ist der Engel der Besonnenheit. Er zeigt dir genau, was für
dich richtig ist. Dein Gefühl sagt dir mehr als die Argumente des Verstandes,
die nie ganz objektiv sind, die immer schon vermischt sind von Ehrgeiz,
Glänzenwollen, Beweisenwollen, Rechthabenwollen. Dort, wo der Engel der
Besonnenheit in dir ist, dort kannst du besser spüren, was für dich stimmt. Aber
du musst auch auf den Engel hören. Du brauchst Besinnung, um besonnen sein zu
können. Wenn du auf den Engel der Besonnenheit in dir Acht gibst, dann wird er
dich immer auf dem rechten Weg führen. Er wird dich davor bewahren, in Fallen zu
tappen, die dir andere stellen. Er wird dir die richtige Entscheidung eingeben.
Im Engel der Besonnenheit hast du einen klaren und sicheren Begleiter. Er wird
darauf achten, dass dein Leben gelingt, dass die Tugend der Besonnenheit dich
tauglich macht für das Leben,