Der Engel der Ausgeglichenheit

Von einem Menschen sagen wir, er sei ausgeglichen, wenn er sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lässt, wenn er immer gleich gut gelaunt ist, wenn er Frieden ausstrahlt. Er macht keinen zerrissenen Ausdruck. Er lässt sich nicht hin und her zerren. Er ist mit sich im Einklang. Er ist immer gleich, hat immer die gleiche Gestalt, die gleiche Stimmung, die gleiche Zufriedenheit. Du kannst j mit ihm rechnen und Dich auf ihn verlassen. Du brauchst keine Angst zu haben, dass er Dir mit seiner schlechten Laune alles verdirbt. Wenn Du ihn ansprichst, weißt Du, dass er nicht explodiert, sondern in aller Ruhe anhört, was Du ihm sagst. Es geht von ihm etwas Friedliches aus. In seiner Nähe kommst Du selbst in Ordnung. Deine aufgewühlte Seele beruhigt sich, und Du wirst neben ihm selber ausgeglichen.

Wir sehnen uns nach solcher Ausgeglichenheit. Zugleich wissen wir, wie schnell wir aus dem Gleichgewicht zu bringen sind. Jemand braucht uns nur zu kritisieren. Schon wollen wir uns rechtfertigen und verteidigen. Oder aber wir verlieren die Fassung, fangen an zu weinen oder zu schreien. Die Ausgeglichenheit ist etwas anderes, als „cool" zu reagieren. Bei jungen Menschen ist es heute beliebt, cool zu sein, keine Gefühlsregung zu zeigen, alles an sich ablaufen zu lassen. Aber dieses „cool sein" wird erkauft durch Kälte und Starre. Man baut einen Panzer aus Beton um sich herum auf, durch den niemand dringen kann. Beton ist auch immer gleich, aber eben gleich kalt, leblos, ab­stoßend, verschlossen.

Lateiner bezeichnen die Ausgeglichenheit mit „aequo animo". "Äquo animo " zu sein, gleichmütig zu sein, das ist das Ideal der stoischen Philosophie. Der gleichmütige Mensch ist gelassen, frei von Affekten. Er lässt sich von seinen Emotionen nicht hinreißen. Er strahlt innere Ruhe aus. Bei ihm ist die Seele im Gleichklang, im Einklang mit sich selbst. Sie hat immer die gleiche Gestalt. Sie hat in sich Festigkeit und Klarheit und passt sich nicht den äußeren Einflüssen an. Sie ruht in sich. Die Lateiner sprechen von der Seele nicht nur als „anima", sondern auch als „animus". Anima meint eher die Seele als Atem und Hauch, während animus die Seele als den Sitz der Empfindungen und der Gefühle, der Affekte und Leidenschaften versteht. Die Seele ist „aequus", gleich, eben, gelassen, frei von Affekten. Die Seele wird nicht von außen bestimmt, sondern sie hat ihre eigene Qualität, die Qualität von Frieden, Heiterkeit, Leichtigkeit. „Aequus" heißt auch: „billig, freundlich, recht". Der ausgeglichene Mensch ist ein freundlicher Mensch, einer, der immer Heiterkeit und Freundlichkeit ausstrahlt. Da stimmt die Seele mit sich selbst überein. Da ist die Seele wie ein ruhiger See. In ihm kann man mit Genuss schwimmen. Ihn kann man betrachten und wird davon selber ruhig. Wenn in das ruhige Wasser etwas fällt, gibt es zwar Wellen. Aber schon nach kurzer Zeit schwingen die Wellen aus. Die Unruhe verebbt in der Ruhe des Sees.

Der ausgeglichene Mensch wird auch die Wogen ausgleichen, die um ihn herum sich auftürmen. Er wird in einem Konflikt zwischen zwei Menschen oder Gruppen ausgleichend wirken. Er wird nicht Öl ins Feuer gießen, sondern die Flamme dämpfen. Er wird sehen, wie wieder ein Gleichgewicht hergestellt werden kann, damit die Bedürfnisse beider Parteien zu gleichen Teilen erfüllt und zurückgewiesen werden. Die Ausgeglichenheit ist eine Fähigkeit, die man nicht einfach durch Disziplin erwerben kann. Da muss schon ein Engel in unserer Seele wirken, damit er die Turbulenzen in unserem Innern ausgleicht. Ein Engel muss Ausgleich schaffen zwischen unseren Befriedigungen und Frustrationen, zwischen Genießen und Verzichten, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Fröhlichkeit und Traurigkeit.

Bitte den Engel der Ausgeglichenheit, dass er über Deine Seele wacht, dass er Deiner Seele zu ihrer wahren Gestalt verhilft, dass er die Unebenheiten Deiner Seele ausgleicht, damit Du ausgeglichen durchs Leben gehen kannst, mit Gleichmut (aequo animo) und innerem Frieden. Dann wirst Du auch ausgleichend wirken, wo immer Du bist Du wirst nicht spalten, sondern verbinden, nicht anheizen, sondern dämpfen, nicht Unterschiede schaffen, sondern Ausgleich.