Der Engel der Achtung

Während meines Studiums in Rom lud ich einmal einen argentinischen Freund zu mir nach Hause ein. Er verstand sich sehr gut mit meinem Vater. Mein Vater konnte weder Italienisch noch Spanisch. Der Freund sprach kein Deutsch. Dennoch haben sich beide verstanden. Bei seinem Abschied sagte mir der Freund: „Bei deinem Vater fühlt man sich geachtet.“ Das hat mich sehr getroffen. Und es war für mich immer eine Frage, ob sich die Menschen von mir geachtet fühlen. Mir sagte ein Priester von seinem Bischof, dass sich alle Mitarbeiter inkompetent fühlen. Und eine Sekretärin erzählte mir, dass sie sich von ihrem Chef kontrolliert fühlt. Er schaut sie nicht an, wenn er morgens in Büro kommst, sondert sieht sofort auf irgendwelche Fehler, die ihm in die Augen fallen. Eine Frau fühlt sich von ihrem Mann nicht ernst genommen. Eine Gemeinde hat das Gefühl, dass ihr Pfarrer bei der Predigt doziert.

Jesus hat die Menschen geachtet. Er hat sie angesehen und ihnen dadurch Ansehen verliehen. Das wird für mich am deutlichsten in der Heilung der gekrümmten Frau (Lk 13, 10-17). Da ist eine Frau, die nicht zu sich stehen kann, die gekrümmt und gebeugt ist, resigniert, erdrückt von der Last ihres Lebens, unterdrückt und gebrochen. Jesus heilt sie, indem er sie ansieht und zu sich ruft. Er stellt eine Beziehung zu ihr her. Er übersieht sie nicht, sondern schaut sie an. Und er spricht so zu ihr, dass sie sich geachtet fühlt. Er spricht sie nicht auf ihre Fehler hin an. Das würde sie nur noch mehr beugen. Er sagt Worte, die sie aufrichten: „Frau, du bist von deinem Leiden erlöst. Du bist schon heil und ganz. Es ist gut, wie du bist. Du hast eine unantastbare Würde. Du darfst so sein, wie du bist. Es ist gut, dass es dich gibt.“ Und er berührt sie mit seinen Händen. Mit seinen Händen gibt er ihr zu verstehen, dass alles an ihr gut ist, dass er gerne mit ihr in Beziehung tritt, dass er sie achtet. Und von dieser Achtung her kann sie sich im gleichen Augenblick aufrichten und Gott loben. Jetzt sieht sie wieder dankbar und froh in ihr Leben.

Der Engel der Achtung möchte dich verschiedene Schritte lehren, wie du die Menschen durch deine Achtung aufrichten kannst. Der erste Schritt besteht im Beachten. Du sollst den anderen wahrnehmen und nicht übersehen. Ich kenne Menschen, die sich in ihrer Kindheit immer vom Vater übersehen fühlten. Eine Frau erzählte mir, dass der Vater nur auf die ältere Tochter achtete. Die sah besser aus. Sie selbst wurde immer übersehen. Immer wenn ein Mensch sie übersieht, bricht die alte Wunde in ihr wieder auf. Und sie hat den Eindruck, niemand würde sie achten. Sie sei ja nichts wert. Wenn du mit einem Menschen sprichst, sieh ihn an! Wenn du durch dein Büro gehst, übersehe deine Mitarbeiterinnen nicht! Manche werden sich durch dein Übersehen und deine Nichtbeachtung beugen lassen. Sie werden mit gekrümmten Rücken, resigniert und haltlos, durch den Tag gehen. Du kannst die anderen aber nur wahrnehmen, wenn du von dir selbst absiehst, wenn du nicht immer nur mit dir selbst beschäftigt bist. Du musst frei sein, um die anderen beachten zu können.

Achten heißt aber noch mehr als Beachten. Achten heißt: den anderen gelten lassen, ihn ernst nehmen. Achten hat mit Aufmerksamkeit zu tun. Ich achte den, auf den ich aufmerke, dem ich zuhöre, für den ich mich interessiere. Das deutsche Wort „achten“ hängst mit „nachdenken, überlegen“ zusammen. Den anderen achten heißt, dass ich mich in ihn hineindenke, dass ich über ihn meditiere, mich einfühle, wie es ihm gehen könnte und was ihm gut täte.

Ich wünsche dir, dass der Engel der Achtung deine Seele mit der Fähigkeit beschenke, aufmerksam zu sein auf die Menschen in deiner Umgebung, sie anzusehen, sie zu schätzen und zu achten. Der Engel der Achtung will dich selbst zu einem Engel für die Menschen machen, damit sie sich in deiner Nähe geachtet wissen, sich in ihrer Würde aufrichten und aufrechter durch das Leben gehen.