DER ENGEL DER ZÄRTLICHKEIT

Menschen, die sich lieben, sagen manchmal zueinander: Du bist für mich ein Engel der Zärtlichkeit. Sie drücken damit aus, wie gut es ihnen tut, dass der andere so zärtlich zu ihnen ist, dass er sie nicht behandelt wie einen Besitz, sondern wie einen kostbaren Schatz, dem man sich nur behutsam nahen darf. Aber Zärtlichkeit ist nicht nur die Weise, wie zwei Verliebte miteinander umgehen, sondern sie ist heute zu einer modernen Tugend geworden. Inmitten einer Welt, in der die Gewalt vorherrscht, sehnen sich junge Menschen nach einem anderen Beziehungsmodell, nach einer Atmosphäre der Zärtlichkeit. Es entsteht eine eigene Kultur der Zärtlichkeit, ein eigener Lebensstil der Zärtlichkeit. Zärtlichkeit ist die Kunst, mit Menschen, mit der Natur und mit den Dingen zärtlich umzugehen. Auch wenn der Begriff der Zärtlichkeit typisch modern ist, so begegnet uns das Phänomen der Zärtlichkeit in allen Zeiten. Die Bibel ist voll von zärtlichen Begegnungen. Der Titusbrief sagt uns, dass uns in Jesus Christus die Zärtlichkeit Gottes (die charis, die Gnade, Zärtlichkeit) erschienen ist (Tit 3,4). Der Dichter Heinrich Böll hat vor seinem Tod eine eigene Theologie der Zärtlichkeit eingefordert. Und er selber hat im Neuen Testament eine Theologie der Zärtlichkeit gefunden, "die immer heut".

Der Engel der Zärtlichkeit möchte Dich einführen in die Kunst, zart und zärtlich umzugehen mit den Menschen, aber auch mit allem, was Du in die Hand nimmst. Im deutschen Wort zart klingt mit: lieb, geliebt, wert, vertraut, lieblich, fein, schön, weich. Du kannst nur zärtlich mit einem Menschen umgehen, wenn Du ihn lieb gewonnen hast. Dann wirst Du nicht in ihn dringen, ihn nicht brutal kritisieren oder anfassen. Du wirst ihn nicht zwingen, alle seine Geheimnisse preiszugeben. Du näherst Dich ihm auf zärtliche und behutsame Weise. Zärtlich kann Dein Sprechen sein, Dein Umgang mit dem andern. In so einer zärtlichen Atmosphäre, in der sich der andere geachtet und kostbar fühlt, in der er seine eigene Schönheit entdeckt, da drückt sich die Zärtlichkeit dann auch in Zärtlichkeiten aus, in einer zärtlichen Berührung, in zärtlichem Streicheln oder in einem zärtlichen Kuss. In solcher Zärtlichkeit strömt Liebe zwischen den Menschen, eine Liebe, die nicht festhält, die keine Besitzansprüche fordert, eine Liebe, die loslässt, die achtet, die ein Gespür hat für das Geheimnis des andern.

Zärtlich mit den Dingen umgehen, das meint, dass ich ein Buch behutsam in die Hand nehme, dass es mir kostbar ist. Ich erschrecke oft, wie brutal manche mit ihren Büchern umgehen. Wenn sie sie einmal gelesen haben, kann man sie kaum mehr in die Hand nehmen. Brutalität, so sagen uns die Psychologen, ist oft Ausdruck verdrängter Sexualität. Zärtlichkeit ist Zeichen einer integrierten Sexualität. Da fließt die Sexualität in alle meine Lebensvollzüge ein, in jede Berührung, in jede Arbeit, in jeden Umgang mit Menschen und Dingen. Da gehe ich zärtlich um mit der Tasse und dem Teller, den ich auf den Tisch stelle. Da nehme ich behutsam mein Werkzeug in die Hand. Der heilige Benedikt verlangt vom Verwalter des Klosters, dass er mit allem Gerät wie mit heiligem Altargerät umgehen sollte. In allem berühren wir letztlich den Schöpfer.

Ich wünsche Dir, dass Du Engel der Zärtlichkeit erleben kannst, die zärtlich zu Dir sind, die Dir eine Atmosphäre der Zärtlichkeit schenken, in der Du aufblühen kannst, in der Du ganz Du selbst sein kannst, in der Du Dich fallen lassen kannst und Dich einfach wohl fühlst. Und ich wünsche Dir, dass Du selbst für andere so ein Engel der Zärtlichkeit sein darfst. Um das sein zu können, musst Du erst in die Schule des Engels der Zärtlichkeit gehen, damit Du mit allem was Dir begegnet und was Du berührst, zärtlich umgehst und so um Dich herum einen zärtlichen Raum schaffen kannst, in dem sich andere geborgen fühlen.