DER ENGEL DES VERZICHTS

Der Engel des Verzichtes hat es heute schwer. Denn viele verbinden mit dem Wort Verzicht eine finstere Askese. Gott will doch, dass wir das Leben in Fülle haben. Warum also verzichten? Heute geht es doch darum, möglichst viel zu konsumieren, sich möglichst viel zu gönnen. Wir haben natürlich genügend Beispiele von Menschen, die vor lauter Verzichten ungenießbar geworden sind. Aber muss der Verzicht unbedingt in eine lebensfeindliche Haltung führen? Verzichten meint eigentlich, einen Anspruch aufgeben auf ein Ding, das mir zusteht. Das Ziel des Verzichtens ist die innere Freiheit. Wer alles haben muss, was er sieht, ist total abhängig. Er ist nicht frei. Er lässt sich von außen bestimmen.

Verzichten ist Ausdruck der inneren Freiheit. Wenn ich auf etwas verzichten kann, das mir sonst Spaß macht, dann bin ich innerlich frei. Verzichten kann aber auch ein Weg der Einübung in die innere Freiheit sein. Wenn ich z. B. in der Fastenzeit auf Alkohol und Fleisch verzichte, dann kann ich mich durch so einen Verzicht in die Freiheit hinein trainieren. Ich probiere einmal, ob es mir gelingt, sechs Wochen lang auf Fernsehen, auf Alkohol, auf Rauchen, auf Fleisch, vielleicht auch auf Kaffee zu verzichten. Wenn es mir gelingt, fühle ich mich wohl. Ich habe dann das Gefühl, dass ich nicht einfach Sklave meiner Gewohnheiten bin, dass ich nicht unbedingt Alkohol brauche, um mich zu stimulieren. Das gibt ein Gefühl der inneren Freiheit. Und die gehört zu unserer Würde. Wenn ich den Eindruck habe, dass ich immer sofort Kaffee brauche, wenn ich müde bin, dann werde ich davon abhängig. Und das ärgert mich letztlich. Das nimmt mir meine Würde als Mensch, der über sich selbst bestimmen kann. Ich spüre, dass ich dann nicht mehr über mich bestimmen kann, dass vielmehr meine Bedürfnisse mich beherrschen.

In einer Fernsehsendung "Verzichten oder Genießen oder beides?“ wurde neben einem Genussforscher und einer Sexualforscherin auch ich als Mönch danach gefragt, wie denn das sei mit dem Genießen und Verzichten. Alle drei waren wir uns einig, dass es kein Genießen ohne Verzichten gibt. Wer nur genießen möchte, dem wird es nicht gelingen. Ich kann ein oder zwei Stück Torte in aller Ruhe genießen. Aber spätestens beim vierten Stück ist es kein Genuss mehr; sondern nur noch ein Hineinschlingen. Viele Menschen sind heute unfähig geworden zu genießen, weil sie nicht mehr verzichten können. Früher war es eher umgekehrt. Da haben sich Christen durch eine zu asketische Lebensweise am Genießen gehindert. Da war für sie Genießen immer schon etwas Suspektes. Das war genauso einseitig wie die heutige Sicht, in der man alles haben muss. Der Gierige wird unfähig zu genießen. Ich wünsche Dir, dass Dich der Engel des Verzichtes in die innere Freiheit führt, dass er Dich dazu befähigt, das, was Du erlebst, wirklich zu genießen, Dich ganz auf das einzulassen, was Du gerade tust, mit allen Sinnen zu fühlen, was Du gerade isst, was Du gerade trinkst. Du wirst spüren, dass der Engel des Verzichtes zugleich ein Engel der Freude und des Genusses ist, der Dir gut tun wird. Wenn Du im Verzicht einen Anspruch auf die Dir zustehenden Dinge wie Essen, Trinken, Fernsehen usw. aufgibst, gewinnst Du Dich selbst. Du nimmst Dein Leben selbst in die Hand. Der Engel des Verzichtes möchte Dich in die Kunst einführen, Dein Leben selbst zu leben, frei über Dich zu verfügen und so Lust an Deinem Leben zu haben.