DER ENGEL DES TROSTES

Trost ist immer dann gefragt, wenn wir einen Verlust erfahren haben, wenn eine Freundschaft zerbrochen ist, wenn ein Mensch uns tief verletzt hat, wenn ein geliebter Mensch im Tod von uns gegangen ist. Wie die Erfahrung des Trostes verschieden sein kann, das zeigt uns ein Blick auf die Sprache. Das deutsche Wort Trost kommt vom gleichen Wortstamm wie Treue. Es hat also mit Festigkeit zu tun. Wer einen Verlust erlitten hat, der verliert sein Gleichgewicht. Er braucht jemanden, der ihm wieder Festigkeit und Standvermögen schenkt. Die griechische Bibel verwendet für das Wort Trösten parakalein. Es bedeutet: herbeirufen, einladen, zur Hilfe auffordern, ermuntern, trösten, mit guten Worten zusprechen. Wer an einer Mangelerfahrung leidet, der braucht einen Engel, der ihm zur Seite steht, der ihm unter die Arme greift, wenn er es nötig hat, und der ihm gut zuredet. Trösten geschieht für die Griechen vor allem im Reden, im Zusprechen von Worten, die wieder einen Sinn stiften in der Sinnlosigkeit, den jeder Verlust erst einmal verursacht. Aber die Worte dürfen kein bloßes Vertrösten sein. Denn das Vertrösten geht am Menschen vorbei. Im Vertrösten rede ich nicht gut zu, sondern am andern vorbei. Ich sage irgend etwas, von dem ich selbst nicht überzeugt bin. Ich nehme Worte in den Mund, die keinen Halt geben und keinen Sinn stiften. Trösten aber heißt, zum andern hin sprechen, Worte sagen, die ihn erreichen, die ihm ganz persönlich gelten, die zu seinem Herzen vordringen. Trösten heißt, Worte finden von Herz zu Herz, Worte, die aus meinem Herzen kommen, und nicht auf irgendwelche leeren Floskeln zurückgreifen, Worte, die das Herz des andern berühren, die ihm einen neuen Horizont eröffnen und ihm einen festen Stand ermöglichen.

Im Lateinischen heißt Trösten consolarL Es bedeutet letztlich, mit dem sein, der allein ist, der alleingelassen ist mit seinem Schmerz, mit seinem Verlust, mit seiner Not. Trösten heißt dann, eintreten bei dem, der in sich selbst verschlossen ist, dem die Not den Mund und das Herz verschlossen hat. Nicht jeder kann das. Nicht jeder hat den Mut, bei dem anzuklopfen, der sich hinter seinem Schmerz verschanzt hat. Nicht jeder hat den Mut, in ein Trauerhaus einzutreten, in dem ihn die abgründige Not und Einsamkeit des andern erwartet. Mit dem andern sein heißt auch, seinen Schmerz zu teilen und bei ihm in seinem Schmerz zu bleiben. Ich kann den andern nicht von außen her trösten, indem ich auf fromme Worte zurückgreife, die ich anderswo gelesen habe. Ich muss bei ihm eintreten. Ich muss es aushalten in seinem Haus der Dunkelheit, der Zerrissenheit, des Leids. Wenn Du es vermagst, in das Haus der Trauer einzutreten, dann empfindet Dich der Trauernde wie einen Engel des Trostes. Dann erfährt er, dass in Dir der Engel Gottes ihn besucht wie „das aufstrahlende Licht aus der Höhe“ (Lk 1,78).

Seit jeher haben die Menschen in ihrem Schmerz den Engel des Trostes beschworen, dass er zu ihnen kommen und bei ihnen bleiben möge. Eindrucksvoll hat das Johann Sebastian Bach in seiner Tenorarle aus der Kantate zum Michaelisfest besungen: "Bleibt ihr Engel, bleibt bei mir! Führet mich auf beiden Seiten, dass mein Fuß nicht möge gleiten.“ Es ist ein inbrünstiges Lied, das darauf vertraut, dass wir nicht alleingelassen sind mit unserem Leid, sondern dass die Engel Gottes uns begleiten und bei uns bleiben und ausharren, bis sich unser Schmerz in ein Danklied verwandelt. Ich wünsche Dir, dass Dich in Deiner Trauer auch ein Engel tröstet, dass er Dir wieder Standfestigkeit verleiht, wenn Du ins Wanken geraten bist, dass er Dir gut zuredet, dass er gute Worte zu Dir spricht, wenn Du vor Schmerz sprachlos geworden bist, dass er Dich in Deiner Einsamkeit besucht und Dir das Gefühl vermittelt, dass Du nicht mehr allein bist, dass da ein Engel an Deiner Seite steht, der alle Wege mit Dir geht. Wenn Du um den Engel des Trostes weißt, dann kannst Du Dich getrost Deiner Trauer stellen, dann musst Du sie nicht überspringen. Die getröstete Trauer wird Dich nicht mehr lähmen, sondern Dich tief in das Geheimnis Deines eigenen Seins führen und in das Geheimnis Jesu Christi, der herabgestiegen ist in unsere Trauer als der „Trost der ganzen Welt“.