DER ENGEL DER TREUE

Treue ist heute nicht mehr gefragt. Zu viele haben erlebt, wie sich Brautleute ewige Treue geschworen haben. Und schon nach kurzer Zeit ist die Ehe zerbrochen. Viele haben Angst davor, sich in Treue an einen Menschen zu binden, weil sie zu genau wissen, dass sie für sich und ihre Gefühle nicht garantieren können. Und dennoch sehnen wir uns nach Menschen, die treu sind, die zu uns stehen, die uns Geborgenheit und Sicherheit schenken. Die Sehnsucht nach der Treue anderer korrespondiert mit dem Zweifel an der eigenen Fähigkeit, treu zu sein.

Das deutsche Wort treu bedeutet von seinem Ursprung her eigentlich "stark, fest wie ein Baum". Da wir uns oft nicht so standfest fühlen wie ein Baum, der tiefe Wurzeln hat und den nichts so leicht umwerfen kann, haben wir auch Angst, dass wir einander nicht so treu sein können, dass wir für uns nicht garantieren können. Treue meint dabei nicht, treu seinen Grundsätzen oder seinen Aufgaben gegenüber zu sein. Das ist eher Pflichterfüllung. Treue ist letztlich immer Du -Treue, Treue gegenüber einer Person. Und Treue setzt Liebe voraus. Ich kann nur dem gegenüber treu sein, den ich liebe. In der Treue steckt die Sehnsucht, dass ich alles vertrauend auf den setzen kann, den ich liebe, dass ich bereit bin, immer wieder den Ruf dessen zu hören, an den ich mich gebunden habe. Treue ist nicht etwas Statisches, sondern die Bereitschaft, mit einem Menschen einen Weg zu gehen, und das Versprechen, durch alle meine eigenen Wandlungen hindurch doch treu und verlässlich zu sein. Durch die Treue, in der ich mich für die Zukunft festlege, erringe ich erst mein Selbst durch alle Zufälligkeiten des Lebens hindurch. Der Mensch, so sagt der deutsche Philosoph Otto F. Bollnow, kommt erst durch die Treue zu sich selbst und findet in dem ständigen Auf und Ab des Lebens zu seinem eigentlichen beständigen Personkern.

Wenn wir einem andern Menschen Treue versprechen, können wir nie für uns garantieren. Wir müssen auch nicht dafür garantieren. Ich habe im Ordensgelübde Treue versprochen gegenüber meiner klösterlichen Gemeinschaft. Ich habe auch keine Garantie, dass ich mich einmal so verlieben würde, dass ich nicht mehr in dieser Gemeinschaft leben könnte. Mir hilft jedoch die Zusage Gottes, dass Er treu ist. Im 2. Timotheusbrief steht die für mich so tröstliche Stelle: "Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen" (2 Tim 2,13). Dass Er mir treu bleibt, selbst wenn ich untreu werde, das gibt mir die Gewissheit, dass mein Leben gelingen wird, ganz gleich, ob es da innere und äußere Brüche geben wird. Und das nimmt mir die Angst, mich in Treue an meine Gemeinschaft zu binden.

Wenn wir von einem Menschen sagen, dass er treu ist, meinen wir nicht nur Eheleute, die treu zu ihrer Beziehung stehen und nicht fremdgehen. Wir meinen vielmehr Menschen, auf die wir uns verlassen können. Wir müssen nicht ständig um sie werben. Sie stehen zu uns in Treue. Und das tut uns gut. Wir wissen, selbst wenn wir lange nichts von ihnen gehört haben, wir können auf sie zählen. Von einem anderen wissen wir, dass er uns mindestens einmal im Jahr schreiben wird, und das über Jahrzehnte hinweg. Ihm ist es nicht zu lästig. Wir sind ihm offensichtlich so wichtig, dass er in Treue immer wieder den Kontakt oder die Begegnung mit uns sucht. Als meine Schwester in jungen Jahren in Italien war, lernte sie einen verheirateten italienischen Soziologieprofessor kennen. Jeder ist seinen Weg gegangen, durch viele innere und äußere Wandlungen hindurch. Aber über 30 Jahre hinweg besteht da ein freundschaftlicher Kontakt. Wenn sie nach Italien kommt, kann sie immer zu ihm kommen. Und wenn er im Ausland ist, bekommt sie den Schlüssel zu seiner Wohnung. Das ist so eine Treue, die einem gut tut, auf die man immer zählen kann.

Ich wünsche Dir den Engel der Treue zu Deiner Seite, Menschen, die zu Dir treu stehen, auf die Du Dich verlassen kannst. Und ich wünsche Dir, dass der Engel der Treue auch Dich befähigen möge, treu zu sein. Dann wirst Du erfahren, wie Du andern Menschen gut tust und wie Du in der Launenhaftigkeit Deines Herzens Dein wahres Selbst findest. Die Treue muss sich nicht in spektakulären Treueschwüren ausdrücken. Sie zeigt sich in Deiner Verlässlichkeit, in Deiner Bereitschaft, zu einem andern sein Leben lang zu stehen, mit ihm alle seine Wandlungswege mitzugehen, ohne sich von ihm abzuwenden. Über solcher Treue liegt ein Segen. In solcher Treue spüren wir den Engel, der uns dazu befähigt. Denn wir können sie nicht aus uns selbst schaffen. Von solcher Treue fühlen sich Menschen mitten in der Unbeständigkeit unserer Welt gehalten und getragen. Da wissen sie, dass sie für einen andern wichtig sind. Und das hilft ihnen, ihren eigenen Wert zu sehen und zu sich zu stehen trotz aller Enttäuschungen.