DER ENGEL DES TRAUERNS
Bei Trauer denken wir sofort an die Trauer um einen Verstorbenen. Das ist wohl auch der Ernstfall des Trauerns. Wer die Trauer um einen lieben Toten, etwa um den verstorbenen Vater oder die verstorbene Mutter, überspringt, der blockiert seinen Lebensfluss. Er weiß nicht, warum er sich nicht richtig freuen kann, was ihm da auf der Seele liegt, das ihn am Leben hindert. Es ist oft die nicht gelebte Trauer. In der Trauer setzen wir uns bewusst mit dem Verlust auseinander, den der Tod dieses Menschen in unser Leben gerissen hat. Und wir schauen unsere Beziehung zu ihm nochmals an. Wir erinnern uns, was wir mit ihm alles erlebt haben, was er uns bedeutet hat, was er uns geschenkt hat. Aber wir verschließen unsere Augen auch nicht vor dem Schweren, das wir mit ihm erlebt haben, vor den Schmerzen, die er uns zugefügt hat, vor dem Ungeklärten und Unausgesprochenen. Manche wundern sich dann, dass da in ihrer Trauer auch Wut hochkommt. Aber die darf auch sein. Trauer klärt unsere Beziehung und stellt sie auf eine neue Ebene. Wenn wir durch die Trauer hindurchgegangen sind, dann können wir eine neue Beziehung zu dem Verstorbenen aufbauen, dann wird er für uns zu einem inneren Begleiter. Er ist nicht einfach verschwunden. Wir begegnen ihm manchmal im Traum. Da kann er uns Worte sagen, die uns weiterhelfen. Oder er erinnert uns einfach daran, dass wir etwas von dem bräuchten, was er dargestellt hat. Durch die Trauer hindurch entdecken wir, wer der andere wirklich war. Während seines Lebens haben wir immer nur einen Teil von ihm kennen gelernt. Der ändere Teil war hinter seiner Maske verborgen. Jetzt wissen wir was er eigentlich mit seinem Leben aussagen wollte, was die tiefste Sehnsucht seines Herzens war, welche Botschaft er mit seinem Leben vermitteln wollte.
Der Engel des Trauerns möchte Dich aber nicht nur die rechte Trauer um Verstorbene lehren. Es gibt viele Gelegenheiten, in denen er Dich einweisen möchte in die Kunst, Vergangenes und Ungeklärtes aufzuarbeiten und es hinter Dir zu lassen. Da ist die Trauer um all das ungelebte Leben. Ich erlebe viele Menschen, die auf einmal das Gefühl haben, sie seien um ihr Leben betrogen worden. Sie durften nie wirklich das leben, was sie gerne gemocht hätten. Sie sind von den Eltern und Lehrern in eine Richtung gedrängt worden, die ihnen nicht gut tat. Oder sie erkennen schmerzlich, wie ihre Kindheit wirklich war, dass sie nie wirkliche Geborgenheit erfahren haben. Solche Erkenntnisse tun sehr weh. Sie müssen betrauert werden. Sonst bestimmen sie uns weiter und schleichen sich heimlich in all unser Denken und Tun ein. Wir merken dann gar nicht, warum wir in bestimmten Situationen so empfindlich reagieren oder so erstarren. Es ist die ungelebte Trauer über die Enttäuschungen, die uns das Leben bereitet hat.
Es gibt aber nicht nur die Enttäuschungen unserer Kindheit. Immer wieder erleben wir, wie eine Beziehung zerbricht, wie wir vor dem Scherbenhaufen unseres eigenen Lebens sitzen. Wir sind gescheitert. All die Ideale, die wir verwirklichen wollten, haben sich als Illusionen herausgestellt. Jetzt sitzen wir da, enttäuscht, desillusioniert, ohne Schwung. Ein Mann meinte einmal nach einer zerbrochenen Beziehung, er fühle sich, als ob man ihm die Flügel abgeschnitten habe. Der Engel der Trauer möchte Dich davor bewahren, flügellahm durchs Leben zu gehen. Er möchte Dir neue Flügel geben, damit Du Dich in die Lüfte erheben und auf das Scheitern von oben herabsehen kannst. Er möchte Dir neuen Schwung verleihen, Dich den Aufgaben zu stellen, die jetzt für Dich dran sind. Aber der Engel der Trauer kann Dich nicht vor dem Schmerz bewahren, den jede Trauer für uns bedeutet. Du musst Dich dem Schmerz stellen. Aber Du darfst gewiss sein, dass Du nicht allein bist mit Deinem Schmerz, dass der Engel der Trauer Dich darin begleitet und dass er Deinen Schmerz in neue Lebendigkeit verwandeln wird. Vielleicht wird Dir der Engel der Trauer auch Menschen schicken, die Dir beistehen in Deiner Trauer, die Dich verstehen, die mit Dir fühlen und Dir die Augen öffnen für das, was sich Dir jetzt als neue Möglichkeit eröffnet.