DER ENGEL DER NÜCHTERNHEIT
Manchmal gebrauchen wir das Wort nüchtern für phantasielos und langweilig. Aber in diese Haltung soll Dich der Engel der Nüchternheit sicher nicht führen. Vom Ursprung her ist Nüchternheit ein klösterliches Wort. Es kommt von nocturnus, nächtlich. Der nächtliche Gottesdienst der Mönche, die Vigil, hatte drei Nokturnen, drei Nachtwachen. Er wurde vor der Morgenmahlzeit gehalten. Nüchtern heißt dann eigentlich "noch nichts gegessen oder getrunken habend". Wer noch nicht gegessen hat, der ist ganz wach, der nimmt die Dinge so wahr, wie sie sind. Wenn wir viel trinken, können wir benebelt sein und die Wirklichkeit nur noch schemenhaft wahrnehmen. Und wenn wir zuviel gegessen haben, sind wir satt und schläfrig und sind wenig aufnahmefähig. Nüchternheit meint also, die Dinge so sehen, wie sie sind, ohne sie durch die Brille der Schläfrigkeit oder der Projektionen zu verstellen.
Solche Nüchternheit ist angebracht, wenn sich in einer Diskussion alle nur von ihren Emotionen leiten lassen. Solche Nüchternheit ist ein Segen, wenn bei einer Entscheidungsfindung zuviel Eigeninteresse, zuviel Machtkampf und zu viele Beziehungskonflikte eine klare Sicht der Dinge verhindern. Mir hat ein Handwerksmeister von Entscheidungsfindungen erzählt, die er in Frauenklöstern erlebt hat. Da sagt die eine Schwester, dass sie einen gelben Vorhang möchte, nicht, weil er ihr gefällt, sondern weil die Oberin es möchte und weil die andere Schwester, die sie nicht leiden kann, unbedingt einen grünen bevorzugt. Oft genug sind unsere Entscheidungen von solchen Beziehungskonflikten geprägt. Da bräuchte es den Engel der Nüchternheit, der uns klar sehen lässt, was richtig ist. Nüchternheit heißt auch Sachlichkeit, Sachgerechtigkeit. Wenn wir den Sachen gerecht werden, werden wir auch dem gerecht, der Grund dieser Wirklichkeit ist.
Aber häufig vermischen wir die Sachen mit unsern Emotionen. Dann können wir sie nicht mehr richtig sehen. Dann können wir einen Konflikt nicht mehr lösen, weil alle in einem Emotionsbrei herumtappen wie in einem Sumpf, aus dem sie nicht mehr aus eigener Kraft herauskommen.
Der Engel der Nüchternheit könnte Dir zum Segen werden, wenn Du mit Menschen sprichst, die Deinen Rat suchen, die Dir ihre Probleme erzählen, ihre Verletzungen, ihren Ärger, ihre Enttäuschung. Wenn Du Dich da nicht mitreißen lässt in den Sumpf der Emotionen, sondern nüchtern klären kannst, worum es eigentlich geht, dann kannst Du wirklich helfen, dann kannst Du den Ratsuchenden herausführen aus dem Nebel seiner Emotionen.
Nüchternheit verlangt eine gute Distanz zum andern. Wenn Du vor Mitleid zerfließt, kannst Du dem andern keinen Weg zeigen. Dein Mitleid tut ihm anfangs vielleicht gut. Aber es genügt nicht, wenn Ihr Euch gegenseitig bedauert, wie schlimm das Leben sei. Du sollst mit dem andern mitfühlen. Aber Du brauchst auch den nüchternen Blick aus einer gesunden Distanz heraus, um einen Weg aus dem Dschungel der Probleme zu finden.
Der Engel der Nüchternheit kann Dir auch helfen, Deine eigene Situation richtig einzuschätzen, Deine Dramatisierungen aufzugeben, mit denen Du oft genug Deine Lage übertreibst, und einen Weg zu entdecken, besser mit Dir umzugehen. Oft genug bist Du betriebsblind und siehst alles nur von Deinem Ärger oder Deiner Enttäuschung oder Deiner Verletzung aus. Das verstellt Dir den Blick für gangbare Lösungen. So wünsche ich Dir den Engel der Nüchternheit, damit Du Deine eigene Situation klären kannst und dass Du Klarheit hineinbringen kannst in den Nebel menschlicher Beziehungs- und Entscheidungskonflikte.