DER ENGEL DER MILDE

Für mich ist das milde Herbstlicht immer ein Bild für einen Menschen, der auf sich selbst, auf seine Fehler und Schwächen, aber auch auf die Menschen und ihre Menschlichkeiten mit einem milden Blick sieht. Mit seinem milden Blick taucht er seine eigene Wirklichkeit und die der Menschen um sich herum in ein mildes Licht. Im milden Herbstlicht wird alles schön. Da leuchten die bunten Blätter am Baum in ihrer ganzen Schönheit. Da ist aber auch der dürre Baum schön. Da bekommt alles seinen eigenen Glanz. Ich kenne alte Menschen, von denen so eine Milde ausgeht. In ihrer Nähe bin ich gerne. Mit ihnen unterhalte ich mich gerne.

Da geht eine Erlaubnis aus, dass ich so sein darf, wie ich bin, und eine Zustimmung: "Es ist doch alles gut." Das Leben hat diese alten Menschen oft hin- und hergeschüttelt. Sie sind durch Höhen und Tiefen gegangen. Aber jetzt im Herbst ihres Lebens schauen sie mit einem milden Blick auf alles. Es ist ihnen nichts Menschliches fremd geblieben. Aber sie verurteilen nichts. Sie lassen es im milden Herbstlicht leuchten, so wie es halt geworden ist.

Das mittelalterliche Wort milde kommt von mahlen. Mild heißt also "zermahlen, fein, zart, weich, sanft". Milde ist man also kaum von Natur aus. Milde setzt den Prozess des Gemahlenwerdens voraus. Erst dann wird das harte Korn weich und mollig. Mollig kommt von mola, der Mühlstein. Die milden Alten sind durch die Mühle des Lebens zermahlen worden. Sie haben Krisen erlebt, sie waren verzweifelt. Sie sind durch dunkle Engpässe hindurchgegangen. Sie haben sich mit ihren Fehlern und Schwächen abgekämpft und haben immer wieder verloren. Aber sie sind immer wieder aufgestanden und haben weiter gekämpft. Der Mühlstein ihres Schicksals hat sie weichgerieben.

Sie haben nicht rebelliert gegen diesen Mühlstein. Sie haben Ja dazu gesagt, gemahlen zu werden. Und so sind sie mild geworden. Vielleicht haben sie die Erfahrung des Engels gemacht, die Werner Bergengruen in seinem Engel-Gebet ausgedrückt hat:

"Bruder Engel, jede Nacht,
eh mich noch Dämonen fingen,
haben, Hüter, deine Schwingen
Morgenröten angefacht....
Hast mich brüderlich getragen
quer durch rotes Höllenland,
hast an schroffer Felsenwand
Stufen mir herausgeschlagen,
Strick und Kugeln abgewehrt,
Mauern meinem Gang gespalten,
und wie oft ich dich beschwert,
immer mir die Treu gehalten,
unbedankt und ungegrüßt.

Engel, sei du mein Geleit,
alle Straßen dämmern wüst.
Engel, reiß mich aus der Zeit.
Engel, führ mich, wie es sei,
einmal noch. Dann bist du frei.
Nimm von meiner Brust den Stein.
Lass mich, Engel, nicht allein."

Offensichtlich hat der Dichter erfahren, dass der Engel der Milde ihn durch alle Höhen und Klüfte hindurchgetragen, gemahlen und so milde gemacht hat.

Milde und Sanftmut gehören zusammen. Für den Mönchsschriftsteller Evagrius Ponticus ist die Sanftmut das Kennzeichen des spirituellen Menschen. Askese, die den Menschen nur hart und selbstgerecht macht, ist wertlos. Nur wer sanftmütig ist wie David und Jesus, der hat etwas verstanden vom geistlichen Weg. Wer hart über andere urteilt, der hat seine Fehler und Schwächen nicht wirklich überwunden. Er hat sie nur unterdrückt. Er hat mit Gewalt gegen sie gekämpft. Und nun geht er mit der gleichen Gewalt gegen die andern vor. Er projiziert seine unterdrückten Leidenschaften auf die andern. Er ist nicht durch die Mühle der Wahrheit gemahlen worden. Und so ist er nie weich und zart und milde geworden.

Ich wünsche Dir, dass Du in Deinem Leben so manchem Engel der Milde begegnen darfst. Du wirst spüren, wie Dir solche Menschen gut tun. Und vielleicht kennst Du schon solche milden Menschen. Suche ihre Nähe, sprich mit ihnen, frag sie, wie sie so geworden sind. Dann kannst Du von ihnen den milden Blick lernen, der Dein Leben in das sanfte Licht des Herbstes taucht, der allem in Dir, auch dem Scheitern, eine eigene Würde und Schönheit schenkt.

Und wenn Du so in die Schule milder Menschen gegangen bist, kannst Du vielleicht selbst zu einem Engel der Milde werden für die Menschen, die hart gegen sich wüten, die sich selbst verurteilen und die über sich und ihre Fehler verzweifeln. Du brauchst ihnen gar nicht viel zu sagen. Vielleicht spüren sie an Deinem milden Blick, dass sie auch auf ihr Leben mit andern Augen sehen können, nicht mit einem harten und beurteilenden, sondern mit einem milden und sanften Blick, der alles in das milde Licht des Herbstes taucht.