DER ENGEL DER LEIDENSCHAFT

Der Engel der Leidenschaft scheint dem Engel der Gelassenheit zu widersprechen. Aber wir brauchen viele Engel, um in uns das Leben zur Blüte zu bringen. Der Engel der Leidenschaft möchte uns herausfordern, mit der ganzen Kraft unseres Herzens zu leben, nicht nur so auf Sparflamme dahinzuexistieren. Wenn ein Mensch keiner großen Leidenschaft mehr fähig ist, dann wird sein Leben langweilig und fad. Es verliert den Geschmack. Das ist sicher nicht im Sinne Jesu, der uns aufgefordert hat, Salz für die Erde zu sein, diese Welt mit unserer Lebendigkeit zu würzen. Leidenschaften sind natürliche Antriebskräfte im Menschen, die ihn zum Leben antreiben möchten und die ihn letztlich auf Gott hin treiben sollen. Der Engel der Leidenschaft soll uns die Kunst lehren, mit diesen Antriebskräften so umzugehen, dass sie Antreiber zum Leben werden, dass wir von ihnen nicht beherrscht werden, sondern dass wir sie einsetzen können für das eigentliche Ziel unseres Lebens. Wir sollen nicht zu Triebmenschen, zu getriebenen Menschen werden, die sich einfach treiben lassen, sondern zu Menschen, die die Leidenschaften antreiben, dem Leben zu dienen und das Leben in seiner Vielfältigkeit auszuformen.

Wer sich leidenschaftlich auf etwas einlassen kann, der kann auch leidenschaftlich für das Leben kämpfen, bei dem wird auch seine Spiritualität leidenschaftlich sein. Das zeigt eine chassidische Geschichte: "Ein Chassid verklagte einst vor Rabbi Wolf einige Leute, dass sie ihre Nächte beim Kartenspiel zu Tagen machten. "Das ist gut', sagte der Zaddik. "Wie alle Menschen, wollen auch sie Gott dienen und wissen nicht wie. Aber nun lernen sie sich wach halten und bei einem Werk ausharren. Wenn sie darin die Vollendung erlangen, brauchen sie nur noch umzukehren - und was für Gottesdiener werden sie dann geben!".

Die frühen Mönche haben sich viele Gedanken gemacht über die Leidenschaften. Evagrius Ponticus zählt neun Leidenschaften auf, mit denen der Mönch kämpfen muss. Für ihn sind die Leidenschaften positive Kräfte. Es geht nicht darum, sie abzuschneiden, sondern sie in sein Leben zu integrieren. Die Leidenschaften sollen uns dienen, nicht wir den Leidenschaften. Die apatheia, die das Ziel des Kampfes mit den Leidenschaften ist, meint nicht einen leidenschaftslosen Zustand, sondern die Freiheit vom pathologischen Verhaftetsein an die Leidenschaften, die Integration der Leidenschaften in alles, was ich tue und denke, einen Zustand, in dem mich die Leidenschaften nicht mehr beherrschen, sondern in dem sie mir zur Verfügung stehen als Kraft, als virtus, als Tugend, die dazu taugt, mich lebendig zu machen.

Die Leidenschaften sind wertfrei. Ob sie gut oder böse werden, hängt davon ab, wie ich damit umgehe. Der Zorn ist eine positive Kraft, die mich dazu befähigen möchte, mich abzugrenzen, mich zu befreien von der Macht anderer. Aber er kann mich auch zerfressen, wenn ich mich von ihm bestimmen lasse. Die Sexualität kann mich lebendig machen, aber sie kann mich auch besetzen.

Weder Unterdrücken noch Ausleben von Leidenschaften führt zur Lebendigkeit, sondern der bewusste Umgang mit ihnen. Wer ohne Leidenschaft lebt, dem fehlt der Biss, dem fehlt die Kraft, dem fehlt die Fülle des Lebens. Viele Christen haben vor lauter Streben nach Korrektheit ihre Leidenschaften abgetötet. So sind sie langweilig geworden. Sie sind nicht mehr das Salz der Erde, nicht mehr die Würze für unsere Welt, sondern ein fader Geschmack, für den sich keiner mehr interessiert. Jesus hat sich leidenschaftlich eingesetzt für die Armen und die Entrechteten. Er hat leidenschaftlich vom barmherzigen Vater gesprochen und voller Leidenschaft gegen die Herzenshärte der Pharisäer angekämpft, die das Bild Gottes durch ihre kleinliche Gesetzlichkeit verdunkelt hatten.

Das deutsche Wort Leidenschaft kommt von leiden. Und das bedeutete früher: gehen, fahren, reisen. Wer fährt, der macht Erfahrung, der macht etwas durch, der erleidet etwas. Und so nahm das Wort leiden immer mehr die Bedeutung an von: dulden, Schmerz empfinden. Die Leidenschaft hat also mit Erfahrung zu tun. Wer sie abschneidet, verliert an Erfahrung. Wer sich auf sie einlässt, der wird erfahren, der erlebt Neues und Ungeahntes. Aber wie jede Reise auch beschwerlich sein kann, so auch der Umgang mit den Leidenschaften. Es ist immer eine Gratwanderung. Und allzu leicht kann eine Leidenschaft stärker werden, als sie uns gut tut. Dann bestimmt sie uns, anstatt dass wir mit Leidenschaft das Leben angehen. Der Engel der Leidenschaft möge Dich auf Deiner Gratwanderung begleiten, damit Du wahrhaft ein leidenschaftlicher Mensch werden kannst, ein Mensch, der sich voller Leidenschaft auf andere Menschen einlässt, der leidenschaftlich dafür kämpft, dass ein menschenwürdiges Zusammenleben hier auf Erden möglich wird.