DER ENGEL DER LANGSAMKEIT
"Die Eile hat der Teufel erfunden", das weiß ein türkisches Sprichwort. Wir
sprechen von "himmlischer Ruhe". Der Engel der Langsamkeit kann uns an diese
paradiesische Qualität erinnern. Der Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" ist
ein Kultbuch geworden. Offensichtlich hat der Autor Sten Nadolny den Nerv - und
eine tiefe Sehnsucht - unserer Zeit getroffen. Nicht nur die Nerven vieler
Zeitgenossen liegen blank unter dem ständigen Stress. Auch unsere Seelen nehmen
Schaden und leiden unter der Hektik, unter dem "gnadenlosen" Druck einer
Ökonomisierung der Zeit. Wenn immer alles schneller gehen muss, wenn man im
Arbeitsablauf jede Minute einsparen möchte, wenn es keine Pausen mehr geben
darf, wenn alles immer noch mehr beschleunigt wird, dann braucht es das
Gegengewicht: die Entdeckung der Langsamkeit. Dann gibt es auch viel wieder zu
entdecken durch Langsamkeit und Ruhe. Statt Beschleunigung täte uns
Entschleunigung not.
Wenn wir einen Panther in einem Käfig beobachten, dann bewundern wir, wie
souverän und langsam er seine Bewegungen macht. Wir wissen, dass er im nächsten
Augenblick auch unglaublich schnell sich auf ein Opfer stürzen kann. Aber er hat
Zeit, er lässt sich Zeit. Bei uns ist Zeit Geld. Wir müssen möglichst viel Zeit
einsparen, um sie für Wichtigeres frei zu haben. Aber die Frage ist: Was ist
dann für uns wichtiger? Mit dem, was uns dann übrig bleibt, können wir oft genug
nichts anfangen. Meist hetzen wir. Aber wohin? Wir sind Opfer unserer eigenen
Hektik geworden. So schleicht sich die Hektik auch in unsere Freizeit ein. Auch
da müssen wir möglichst viel in möglichst kurzer Zeit erleben. Aber bei dieser
permanenten Beschleunigung verlernen viele Menschen, überhaupt noch etwas zu
spüren und zu erleben. Sie fühlen sich nur am Leben, wenn um sie herum viel
Trubel ist. Aber das Leben selbst fühlen sie nicht mehr. Für sich selbst, für
ihren Atem, für ihren Leib, für die Regungen ihres Herzens haben sie kein Gespür
mehr. "Müßiggang ist aller Liebe Anfang", das hat die Dichterin Ingeborg
Bachmann einmal gesagt.
Solchen Müßiggang kann man beim ganz alltäglichen Gehen einüben. Langsam gehen, bewusst jeden Schritt spüren, sich nicht antreiben lassen - durch nichts -, das lässt uns ganz im Augenblick sein, das führt zu intensivem Erleben und zu innerem Frieden. Langsamkeit hat eine eigene Schönheit. Wenn eine Frau langsam durch die Straße schlendert, dann schauen ihr alle Männer nach. Sie kann es sich leisten, langsam zu gehen. Sie genießt ihre Schritte.
Die Frau, die schnellen Schritts durch die Fußgängerzone geht, will nicht gesehen werden. Sie möchte möglichst schnell durch die Menschenmenge hindurch, um ans Ziel zu gelangen. Sie ist nicht wirklich auf dem Weg, sie ist nicht in ihrem Leib. Sie ist nur noch zielorientiert und verliert dabei die Fähigkeit, sich selbst zu spüren, sich selbst zu feiern. Für die stoische Philosophie ist unser Leben ein permanentes Fest. Wir feiern, dass wir Menschen sind mit einer göttlichen Würde. In der Langsamkeit unserer Bewegungen wird etwas von diesem Fest erfahrbar. Wir fassen die Dinge langsam an, wir schreiten langsam. Wir lassen uns Zeit für ein Gespräch. Wir lassen uns Zeit zum Essen. Wir essen ganz langsam und bewusst. Und auf einmal merken wir, wie gut es schmeckt. Wir können genießen. Wir feiern auch ein Fest, wenn wir ganz langsam eine Scheibe Brot kauen.
Der Engel der Langsamkeit möchte Dich einführen in die Kunst, zu sein, intensiv zu leben. Probiere es einfach einmal, bewusst langsamer zu gehen, wenn Du in der Arbeit von einer Bürotüre zur andern willst. Versuche, beim Spazierengehen bewusst jeden Schritt zu spüren, wahrzunehmen, wie Du die Erde berührst und sie wieder lässt. Versuche, langsam und bewusst Deine Tasse in die Hand zu nehmen. Zieh Dich am Abend langsam aus. Du wirst sehen, wie dann alles zum Symbol wird, wie das Ablegen der Kleider zum Ablegen des Tages mit seiner Mühe werden kann. Versuche, Dich morgens langsam zu waschen, das kalte Wasser zu genießen, das Dich erfrischt. Und ziehe Dich langsam an. In der Liturgie ist dieses langsame Anziehen vorgesehen. Da sagt der Priester beim Anlegen des Messgewandes: "Ich ziehe an die Gewänder des Heiles." So kannst Du Dich bewusst freuen über die Kleider, die Du anziehst, mit denen Du Dich für den Tag rüstest, mit denen Du Dich schmückst. Und Du kannst Gott danken mit dem Psalm 139: "Ich danke Dir, dass Du mich so wunderbar gestaltet hast" (Ps 139,14). So will Dich der Engel der Langsamkeit zu einem bewussten und achtsamen Leben anleiten und Dich in die Kunst einweisen, Dein Leben als beständiges Fest zu feiern.