DER ENGEL DER KLUGHEIT
Die Klugheit ist die erste der vier Kardinaltugenden. Sie ist die Fähigkeit, herauszufinden, was hier und jetzt für mich angemessen und zuträglich ist. Im Lateinischen heißt Klugheit prudentia. Das kommt von pro videntia und meint Vorsicht, Voraussicht. Der Kluge sieht voraus. Er handelt mit Umsicht. Er sieht über das gerade Vorhandene hinaus. Er hat einen weiten Horizont. Er beurteilt die Wirklichkeit so, wie sie ist. Für den griechischen Philosophen Aristoteles ist die Klugheit die Voraussetzung aller anderen Tugenden. Ich muss erst die Wirklichkeit richtig erkennen. Dann kann ich auch seinsgerecht handeln. Die Tugend macht nach Josef Pieper "den Menschen tauglich, das zu sein und das zu tun, wozu er eigentlich da ist". Mein Leben wird nur taugen, wenn ich es der Wirklichkeit entsprechend ausrichte. Die Alten unterscheiden die Klugheit von der Weisheit. Die Weisheit erkennt das Geheimnis des Seins, die Klugheit dagegen sieht, wie sie die Erkenntnis der Wirklichkeit in jedem Augenblick anwenden und ins praktische Leben umsetzen soll.
Du brauchst den Engel der Klugheit, wenn Du eine Entscheidung treffen musst. Dein Engel der Klugheit sieht weiter als Du. Er hat einen größeren Horizont. Er sieht voraus (= pro videntia}, welche Folgen Deine Entscheidung haben könnte. Du musst Deinen Engel der Klugheit befragen, um unterscheiden zu können, was die tiefsten Motivationen für Deine Entscheidungen sind und welche Entscheidung der Wirklichkeit am meisten gerecht wird. Du brauchst den Engel der Klugheit, wenn Du eine Situation richtig beurteilen sollst. Du wirst dazu gerufen, einen Streit zu schlichten. Viele meinen da im Übereifer, sie bräuchten nur zu lieben. Dann würde sich schon alles wieder einrichten. Der Kluge sieht sich die Situation genau an. Er fragt nach den Ursachen des Konfliktes. Er erkundigt sich nach den verschiedenen Meinungen.
Und erst wenn er alles gehört und bedacht hat, fällt er ein Urteil, sucht er nach Wegen, den Streit zu schlichten. Der Kluge sieht alles und versucht, alles zu verstehen, um richtig urteilen zu können. Jesus nennt den einen klugen Mann, der sein Haus auf einen Felsen baut. Er handelt nicht schnell und hastig. Er baut sein Haus nicht auf den Sand seiner Illusionen, nicht auf den Sand seiner Begeisterung, sondern auf den Fels richtiger Lebensführung, wie sie Jesus in der Bergpredigt dargelegt hat. Der kluge Mann erwägt alles. Er handelt überlegt. Und er weiß, worauf es ankommt. Der Kluge ist nicht der Vielwisser, sondern der, der das Wesentliche erkennt und bedenkt. Jesus lobt die Klugheit des ungerechten Verwalters, der in einer schwierigen Situation genau die richtige Lösung findet. In einer aussichtslosen Lage erkennt er, wie er mit seiner Schuld so umgehen kann, dass er seine Selbstachtung nicht verliert. Der Kluge findet die Lösung, die für den Augenblick angemessen ist. Die klugen Jungfrauen sehen sich vor. Sie schauen über den Augenblick hinaus und bedenken die Zukunft. Die törichten Jungfrauen leben nur in den Augenblick hinein. Die Klugheit ist offensichtlich die Voraussetzung, dass unser Leben gelingt.
Im Deutschen verbinden wir mit Klugheit oft Gerissenheit. Doch das ist nicht damit gemeint. Das deutsche Wort "klug" heißt eigentlich: fein, zart, zierlich, gebildet, geistig gewandt, mutig, beherzt. Der Kluge denkt nicht allein mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen. Er ergreift beherzt die Gelegenheit, die sich ihm bietet. Und er sieht die feinen Unterschiede, die manchem groben Geist verborgen bleiben. Klugheit ist die praktische Vernunft, die das Wissen umsetzt in ein Tun, das der Wirklichkeit angemessen ist. So hilft das Vielwissen wenig, wenn Du nicht erkennst, was jetzt in diesem Augenblick richtig ist. So wünsche ich Dir den Engel der Klugheit, dass Du in jedem Augenblick den Weg erkennst, der Dich weiterführt, der Dich hineinführt in größere Freiheit und Weite und Liebe.