DER ENGEL DER HINGABE
Kinder können sich mit ganzer Hingabe dem Spiel widmen. Sie lassen sich durch nichts dabei stören. Sie vergessen sich selbst im Spielen. Sie geben sich selbst weg hinein in das Spiel. Die Künstler der Barockzeit haben die Engel oft als Kinder dargestellt, die mit ganzer Hingabe spielen. Der Weihnachtsengel, den Matthias Grünewald auf dem Isenheimer Altar gemalt hat, geht ganz auf in seinem Gambenspiel. Für Grünewald, so meint der Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger, sind Engel „Gefäß himmlischer Lust und Verzückung..., ein Inbegriff von freudig sich vergießender Glückseligkeit“. So sind die Engel in der Kunst Meister der Hingabe. Sie sind ganz im Augenblick, sie geben sich ganz dem hin, was sie gerade tun. Von einem jüdischen Rabbi sagte man nach seinem Tod: Das Wichtigste war für ihn das, womit er sich gerade abgab. Er war offensichtlich vom Engel der Hingabe eingeweiht in das Geheimnis, sich ganz dem Augenblick hinzugeben.
Ein Forscher kann sich seiner Arbeit mit Hingabe widmen. Er lässt nicht locker, bis er eine Lösung gefunden hat. Ein Handwerker kann mit Hingabe seinen Beruf erfüllen. Aber letztlich ist Hingabe auf zwei Bereiche besonders bezogen: die Hingabe in der Liebe, in der Sexualität, und die mystische Hingabe an Gott. Was Hingabe auch sonst in meinem Leben meint, das wird in der Liebeshingabe am deutlichsten. Der sexuelle Akt ist der Höhepunkt jeder Hingabe. Da vergessen sich die Partner und lassen sich ganz auf den andern ein, in den andern hinein, da verschmelzen sie miteinander.
Wer sich hingibt, der gibt alles Festhalten an sich selbst auf. Er klammert sich nicht mehr an sich aus Angst, er könnte sich verlieren. Er kann sich verlieren, weil er weiß, dass er in liebende Arme fällt.
Was in der Sexualität seinen Höhepunkt findet, vollzieht sich in jeder Liebe. Wer einen andern Menschen liebt, der gibt sich ihm hin. Er möchte gar nicht ganz bei sich bleiben. Er möchte beim andern sein. Er möchte sich ihm hingeben, weil er ihm alles bedeutet. Solche Hingabe ermöglicht die Erfahrung eines neuen Reichtums. Wer sich an den geliebten Menschen hingibt, wird von seiner Liebe so sehr beschenkt, dass er sich reicher und lebendiger und freier fühlt als zuvor. Viele Menschen können sich nicht hingeben. Sie sind voller Misstrauen, dass ihre Hingabe missbraucht werden könnte, dass sie sich selbst dabei verlieren könnten. Gerade Menschen, die alles kontrollieren möchten, die ihre Gefühle, ihre Partnerschaft, ihre Worte und Handlungen kontrollieren, aus Angst, einen Fehler zu machen und sich eine Blöße zu geben, sind unfähig, sich hinzugeben. Ihnen fehlt ein wesentlicher Aspekt gelingenden Lebens. Wer sich nicht hingeben kann, bleibt letztlich immer allein mit sich. Er kann einem andern nicht begegnen. Ohne Hingabe kann man nicht lieben und ohne Hingabe nicht leben.
Von Heiligen wird berichtet, dass sie sich ganz und gar Gott hingegeben haben. Sie haben sich Ihm zur Verfügung gestellt. Sie haben gebetet, dass Er mit ihnen machen könne, was er wolle. Wir tun uns schwer mit so einem Gebet radikaler Hingabe. Aber die Heiligen wurden durch solche Hingabe frei. Sie konnten voll Vertrauen in die Zukunft gehen. Sie wussten, dass alles, was Er mit ihnen vorhatte, letztlich gut würde. Berühmt ist das Gebet des Klaus von der Flüe: "0 mein Gott und mein Herr, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.“ Dieses Gebet hat ihn zum Mystiker werden lassen, ganz und gar durchlässig werden lassen für die Wirklichkeit jenseits unserer Wirklichkeit. Und so konnte er für seine Zeitgenossen zum Friedensstifter werden, zu einem Engel, der ihnen neue Wege wies, weil er sich herausgehalten hat aus den Streitigkeiten und alles von Gott her sehen konnte.
Diese Hingabe heißt nicht, sich selbst aufgeben, sondern sich in Ihm auf neue Weise wieder finden. Solche Hingabe, sagt Jesus, ist die Voraussetzung, dass unser Leben Frucht bringen kann. Manchmal benutzen fromme Menschen ihr ganzes religiöses Tun, um an sich selbst festzuhalten, an ihrer Sicherheit, an ihrem Heil. Aber dann wird ihr Leben unfruchtbar. Und sie werden nie den Reichtum und die Lebendigkeit erfahren, die aus der Hingabe rühren.
Ich wünsche Dir, dass Dich der Engel der Hingabe unterweist in der Kunst, Dich an Deine Aufgabe, an geliebte Menschen und an den, der die Liebe selber ist, hinzugeben. Die Hingabe wird Dich reich beschenken. Sie führt Dich in die Freiheit und in ein abgrundtiefes Vertrauen, dass Dein Leben gut wird. Du kannst Dich fallen lassen. Du fühlst dich getragen. Dein Muskelpanzer, den Du durch Dein Festhalten aufgebaut hast, fällt zusammen. Du spürst Dich selbst lebendig und weit. Dein Leben wird fruchtbar. Indem Du Dich hingibst, blühst Du auf.