DER ENGEL DER GEMEINSCHAFT

Wir leben alle irgendwie in Gemeinschaft, in der Gemeinschaft der Familie, in der Gemeinschaft der Kirche, in der Gemeinschaft des Dorfes oder der bürgerlichen Gemeinde. Was soll da der Engel der Gemeinschaft? Die Gemeinschaft, in der wir leben, ist immer auch gefährdet. Sie kann zerbrechen, wenn wir nicht gut miteinander kommunizieren, wenn jeder nur auf sich schaut, wenn jeder sich hinter seinem Vorurteil verschanzt. Der Engel der Gemeinschaft möchte Dir helfen, das Geschenk echter Gemeinschaft zu erfahren.

Ein Blick in unsere eigene Geschichte ist aufschlussreich: Für die ersten Christen war die Erfahrung, dass Gemeinschaft zwischen Juden und Heiden, zwischen Männern und Frauen, zwischen Armen und Reichen möglich war, ein Beweis, dass das Reich Gottes gekommen ist. Jesus Christus hat mit seiner Person und mit dem Geist, den er uns geschenkt hat, Menschen, die so verschieden waren wie seine Apostel, miteinander zu einer Gemeinschaft verbunden. Die Gemeinschaft war für die frühen Christen Ort der Gotteserfahrung. Und das kann sie für uns heute auch immer wieder werden. Da kann eine Gemeinschaft von betenden Menschen im Gottesdienst oder in einer Gebetsgruppe zu einer intensiven Gotteserfahrung werden. Da spüren wir auf einmal, dass wir nicht allein sind, dass Gott unter uns ist. Jesus selbst hat uns verheißen:

„Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Oder wir sprechen mit einem Freund oder einer Freundin und spüren auf einmal eine Dichte und Intensität, dass der Himmel sich über uns öffnet und unser Herz weit wird. Wenn so eine dichte Stille auf einmal entsteht, sagt man nicht von ungefähr: „Ein Engel geht durchs Zimmer.“ Da schafft der Engel der Gemeinschaft eine neue Qualität von Miteinander.

Aber wir kennen auch die andere Erfahrung, dass die Gemeinschaft zur Last werden kann. Da bemühen wir uns, miteinander auszukommen. Aber es gelingt nicht, wir reiben uns wund aneinander. Wenn ein Konflikt bereinigt ist, bricht schon der nächste auf. Wir fühlen uns ohnmächtig, das Ideal der Gemeinschaft zu leben, mit dem wir angetreten sind. Wir sind enttäuscht, und wir halten uns für unfähig, wirklich miteinander zu einer lebendigen Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Aber auch eine solche verletzende Erfahrung kann zum Ort der Gottesbegegnung werden. Sie kann Dich auf die Gemeinschaft der Engel verweisen, in der Du wahrhaft daheim bist. Denn da kannst Du sein, wie Du bist. Da nörgelt keiner an Dir herum. Da projiziert keiner seine Probleme auf Dich. Du brauchst den Engel der Gemeinschaft, der Dir in noch so verfahrenen Situationen zeigt, dass es noch eine tiefere Gemeinschaft gibt, dass Du eingetaucht bist in die Gemeinschaft der Engel. Da spürst Du dann, dass das Ideal, das Du Dir von einer christlichen Gemeinschaft gemacht hast, nicht aus eigener Kraft erfüllbar ist. Damit Du überhaupt in dieser Gemeinschaft leben kannst, in der es so viele Konflikte und Intrigen, soviel menschliche Schwäche und Falschheit gibt, musst Du einen tieferen Grund in Dir haben, einen Grund jenseits von Dir. Die Gemeinschaft wird nie Deine Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit erfüllen können. Sie verweist Dich mit Deiner Sehnsucht auf Gott.

Eine chassidische Geschichte zeigt uns, dass wir nur dann das eigene Leben leben können, wenn wir bereit sind, es mit andern Menschen zu teilen. Da sagt ein Rabbi: "Jeder Mensch ist berufen, etwas in der Welt zur Vollendung zu bringen. Eines jeden bedarf die Welt. Aber es gibt Menschen, die sitzen beständig in ihren Kammern eingeschlossen und lernen und treten nicht aus dem Haus, sich mit andern zu unterreden. Deswegen werden sie böse genannt. Denn wenn sie sich mit den andern unterredeten, würden sie etwas von dem ihnen Zugewiesenen zur Vollendung bringen. Dies bedeutet es: sei nicht böse vor dir selber, gemeint ist damit: dass du vor dir selber verweilst und nicht zu den Menschen ausgehst. Sei nicht böse durch Einsamkeit.“ Es gibt eine gute Einsamkeit, die uns zur Gemeinschaft befähigt. Aber es gibt auch eine böse Einsamkeit, die uns isoliert. In ihr verschließen wir uns und leisten so nicht den Beitrag, den die menschliche Gemeinschaft von uns erwartet, dass wir auf unsere ganz persönliche Weise das Miteinander befruchten und auf unsere einmalige Weise etwas von Gottes Fülle in dieser Welt zur Erscheinung bringen.

Wenn Du die Gemeinschaft von Menschen als Zeichen siehst für die Gemeinschaft, die Gott Dir schenken möchte, dann kannst Du sie genießen. Dann wirst Du immer wieder dankbar sein für die Erfahrung von Angenommensein. Du weißt, wo Du hingehörst. Du kannst dort sein, wie Du bist. Du musst Dich nicht beweisen. Du musst nicht immer Erwartungen erfüllen. Du kannst Dich fallen lassen. Du darfst auch einmal schwach sein. Gerade das ist ein Zeichen von christlicher Gemeinschaft, dass wir auch unsere Schwäche, unsere Wunden zeigen dürfen. Henri Nouwen meinte einmal: Alles, was wir der Gemeinschaft vorenthalten, wird ihr an Lebendigkeit fehlen. Wenn wir ihr unsere Schwäche vorenthalten, weil wir sie lieber verbergen möchten, dann kann an einer wichtigen Stelle die Gemeinschaft nicht aufblühen.

Gemeinschaft heißt, dass wir alles miteinander teilen, unsere Stärken und unsere Schwächen. Aber es muss immer auch noch Raum sein für das eigene Geheimnis. Nur wenn jeder auch für sich sein kann und darf, kann Gemeinschaft entstehen. Manche christlichen Gemeinschaften überfordern ihre Mitglieder, weil sie alles von ihnen haben wollen, nicht nur das Geld, sondern alle Gedanken und Gefühle. Dann wird die Grenze zum Totalitären hin oft überschritten. Gemeinschaft braucht den Atem der Weite und Freiheit. Einsamkeit und Gemeinschaft müssen in einer gesunden Spannung stehen. Wenn die Gemeinschaft verabsolutiert wird, können wir vor lauter Enge kaum mehr atmen. Nur wenn jeder in der Gemeinschaft auch seinen ganz persönlichen inneren Weg gehen kann, wird die Gemeinschaft fruchtbar sein. Sie wird uns herausfordern, uns weiter auf den Weg zu machen. Sie wird uns unsere blinden Flecken aufdecken, damit wir den Weg der Wahrheit gehen. Und auf diesem Weg der Wahrheit kommen wir zu neuen Einsichten über uns selbst und unsere Mitmenschen. Der Engel der Gemeinschaft möge Dir immer wieder die Erfahrung solch beglückenden und herausfordernden Miteinanders schenken.