DER ENGEL DER GELASSENHEIT

„Nichts haben, alles besitzen“, so lässt sich die Haltung von Weisen aus allen Religionen, zu allen Zeiten, beschreiben. Nur wer sein Herz an nichts Geschaffenes hängt, wer loslassen kann, woran andere hängen, der ist wirklich frei. Gelassenheit war für die Mystiker des Mittelalters ein wichtiges Wort. Vor allem Meister Ekkehart spricht immer wieder von der Gelassenheit. Gelassen ist ein Mensch, der sein Ego losgelassen und sich in Gott hinein ergeben hat, der ruhig geworden ist in seinem Herzen, weil er sich in den göttlichen Grund hinein hat fallen lassen. Gelassenheit meint in der Mystik die Befreiung des Menschen von seinem eigenen Ich, das Leerwerden von allen Sorgen und Ängsten um sich selbst, damit Gott in unserem Herzen geboren werden kann, damit wir in unserem Innersten unser wahres Wesen erkennen, den unverfälschten Personkern. Gelassenheit als Haltung innerer Freiheit, innerer Ruhe, als gesunde Distanz zu dem, was von außen auf mich einströmt, was mich zu "besetzen“ und in Besitz zu nehmen droht, das ist nicht einfach eine Charakterhaltung. Sie kann auch eingeübt werden. Um zur Gelassenheit zu gelangen, muss ich vieles lassen.

Da ist erst einmal die Welt, die ich lassen soll. So sagen die Mystiker. Antonios, der Mönchsvater, hat zuerst seinen ganzen Besitz gelassen, damit er frei würde für das Leben. Der Mensch soll das Hängen am Eigentum, am Erfolg, an der Anerkennung lassen. Denn wer an etwas Irdischem hängt, der wird abhängig. Und Abhängigkeit widerspricht der menschlichen Würde. Wir sind oft genug abhängig von unserem Wohlstand, von Gewohnheiten, von Menschen. In einem Väterspruch erzählt uns ein Altvater in einem Bild, dass wir nur durch Loslassen genießen können. Ein Kind sieht in einem Glaskrug viele Nüsse. Es greift hinein und möchte möglichst viele herausholen. Aber die geballte Faust geht nicht mehr durch die enge Öffnung des Kruges. Du musst die Nüsse erst loslassen. Dann kannst Du sie einzeln herausnehmen und genießen.

Lassen ist keine asketische Leistung, die wir uns mühsam abringen müssen. Vielmehr kommt sie aus der Sehnsucht nach innerer Freiheit und aus der Ahnung, dass unser Leben erst dann wirklich fruchtbar wird, wenn wir unabhängig und frei sind. Wenn wir nicht mehr abhängig sind von dem, was andere von uns denken und erwarten, wenn wir nicht mehr abhängig sind von der Aberkennung und Zuwendung von Menschen, dann kommen wir in Berührung mit unserem wahren Selbst.

Die Gelassenheit fordert aber auch ein Lassen von mir selbst. Ich soll mich selbst nicht festhalten, weder meine Sorgen, noch meine Ängste, noch meine depressiven Gefühle. Viele Menschen klammern sich an ihren Verletzungen fest. Sie können sie nicht lassen. Sie benutzen sie als Anklage gegen die Menschen, die sie verletzt haben. Aber damit verweigern sie letztlich das Leben. Wir sollen auch unsere Verletzungen und Kränkungen lassen. Du brauchst den Engel der Gelassenheit, der Dich einführt in die Kunst, Dich und Deine Vergangenheit zu lassen, der Dich unterweist in der Fähigkeit, Dich von Dir selbst zu distanzieren, zurückzutreten und Dein Leben von einem andern Standpunkt aus, von einem Stand jenseits Deiner selbst, anzuschauen. Wer sich so gelassen hat, der kann gelassen reagieren auf die aufgeregten Berichte der Medien. Der kann gelassen antworten auf Kritik und Ablehnung. Er gerät nicht in Panik bei jeder Kritik. Er fühlt sich nicht bedroht. Er hat keine Angst, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Denn er hat Distanz gewonnen zu all dem inneren und äußeren Trubel. Er weiß sich gehalten vom Engel der Gelassenheit, der zu ihm sagt: „Es gibt mehr als die Meinung, die andere von Dir haben. Es gibt mehr als Erfolg und Image. Lass Dich in Gott hinein los. Da findest Du einen festen Grund. Von dem aus kannst Du gelassen auf alles schauen, was auf Dich einströmt“

Wer sich selbst gelassen hat, der kann auch gelassen auf schlimme Nachrichten reagieren. Gelassen zu reagieren ist etwas anderes, als die Botschaft vom Tod eines Menschen gefasst aufzunehmen. Gefasst zu sein ist Ausdruck einer inneren Disziplin. Obwohl der gefasste Mensch innerlich erschüttert ist, zeigt er seine Betroffenheit nicht nach außen. Er bewahrt die Haltung, er beherrscht sich selbst. Gelassenheit ist nicht Selbstbeherrschung. Der Gelassene braucht nicht Haltung zu bewahren, weil er einen andern Standpunkt hat, weil er von schlimmen Nachrichten gar nicht im Innersten getroffen wird. Weil er sich und seine Auffassung, wie sein Leben ablaufen sollte, gelassen hat, kann ihn nichts so leicht aus der Bahn werfen. Der Engel der Gelassenheit hilft ihm, alles, was er hört, aus der Distanz des Engels heraus zu betrachten. Das gibt ihm innere Freiheit und Weite.

Manch einer verbeißt sich in einer hitzigen Diskussion. Er meint, er sei es seinem Gewissen schuldig, dass er die Wahrheit vertritt. Der Engel der Gelassenheit zeigt Dir in solchen Diskussionen, dass die Wahrheit nicht in der Richtigkeit der Worte und der Argumente liegt, sondern auf einer anderen Ebene. Wahrheit meint Stimmigkeit, Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Das, was wir für absolut wahr halten, ist oft nur Ausdruck unserer eigenen Projektionen. Wir machen uns Bilder von der Wahrheit, wir machen uns Bilder von Gott. Die Wahrheit selbst ist unbegreiflich. Sie lässt sich nicht definieren. Wer um die tiefste Wahrheit weiß, der geht gelassen in die Diskussion, nicht resignierend, weil wir die Wahrheit doch nicht erkennen können, sondern im Wissen darum, dass unsere Erkenntnis immer relativ ist, dass es immer verschiedene Standpunkte geben kann, dass die Wahrheit wohl in der Mitte der streitenden Parteien liegen wird.

Gegen das rechnende und vereinnahmend-rechtbaberische Denken hat der Philosoph Martin Heidegger die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis gesetzt: „Beide gedeihen nur aus einem unablässigen herzhaften Denken.“

Ich wünsche Dir, dass der Engel der Gelassenheit Dir hilft, in Deinem Denken nicht allzu kopflastig zu sein und auch auf Dein Herz zu hören.