DER ENGEL DER GEDULD

Geduldig zu warten, das ist heute aus der Mode gekommen. „Selig sind die Wartenden, / An ihnen saust / der Erdball vorüber. / Das schärfste Stück Welt / löst ihren Blick nicht aus der verheißenen Richtung.“ So schreibt die Lyri­kerin Ulla Hahn. Etwas von dieser Seligpreisung, dass den Geduldigen das Himmelreich gehört, macht der Engel der Geduld anschaulich.

Das Wort Geduld kommt vom althochdeutschen dulten = tragen, ertragen und hängt mit dem lateinischen tolerare, tolerieren zusammen. Im Neuen Testament bedeutet das griechische Wort für Geduld hypomone eigentlich „Darunterbleiben“, Ausharren, Aushalten. Manchmal ist es zu passiv gesehen worden, als ob man alles einfach hinnehmen müsse, was ist. In der frühen Kirche hat Geduld mehr die Bedeutung von Ausharren und Standhaftigkeit in der Drangsal, die die Christen von außen bedrängte. Paulus sagt im Römerbrief 5,3f.: „Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung.“ Und der Kolosserbrief bittet: „Er gebe euch in der Macht seiner Herrlichkeit viel Kraft, damit ihr in allem Geduld und Ausdauer habt“ (Kol 1,11). Hypomone meint hier das „standhafte Ausharren, wie es im Kampf zu bewähren ist, in dem man die Stellung, an der man sich befindet, gegen alle Angriffe des Feindes zu halten hat.“ Das besagt durchaus etwas auch für unser Leben heute. Denn es meint Standfestigkeit und Durchhaltevermögen gegen alle Angriffe von außen. Geduld ist hier nicht passives Erleiden, sondern aktives Aushalten und Durchhalten. Sie erweist sich "als beharrliche Widerstandskraft“. Paulus ordnet ihr noch die Langmut bei, die makrothymja. Sie ist für ihn eine Frucht des Geistes (vgl. Gal 5,22). Das griechische Wort meint, dass einer einen großen Mut, ein großes Gemüt, ein weites Herz hat, dass er warten kann. Das alte deutsche Wort Geduld hat im Laufe der Geschichte beide Bedeutungen angenommen: Standfestigkeit, Durchhalten, aber auch Wartenkönnen, Langmut, geduldig zusehen, bis sich eine Lösung ergibt.

Der Engel der Geduld möge Dich also lehren, warten zu können. Das ist heute nicht selbstverständlich. Wir wollen die Lösung immer gleich sehen. Oft braucht es aber eine lange Zeit, bis eine Blume sich entfaltet. Wir brauchen für die eigene Entwicklung Geduld. Wir können uns selbst nicht sofort verändern. Verwandlung geschieht langsam und manchmal unmerklich. Die Bildersprache der Bibel spricht auch ins Heute: So hat es Jesus selbst im Gleichnis von der Selbstwachsenden Saat erzählt (vgl. Mk 4,26-29). Auch Jakobus nimmt in seiner Ermahnung zur Geduld den Bauern zum Vorbild: "Auch der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde, er wartet geduldig, bis im Herbst und im Frühjahr der Regen fällt. Ebenso geduldig sollt auch ihr sein“ (Jak 5,7f.). Viele möchten gleich Erfolg sehen, wenn sie sich etwas vorgenommen haben. Sie wollen in einer Therapie sofort die Fortschritte kontrollieren, und sie möchten bei einer geistlichen Begleitung gleich sehen, was herauskommt. Vor lauter Erfolgskontrolle übersehen sie, was langsam in ihnen heranreift. Sie hätten den Engel der Geduld bitter nötig, damit sie sich Zeit lassen für die inneren Prozesse. Wachstum braucht Zeit. Alles, was schnell ins Kraut schießt, verdorrt auch wieder schnell.

Geduld haben heißt nicht, über alles hinwegzuschauen, was geändert werden kann und geändert werden sollte. Aber Geduld haben darf man auch mit sich selber und mit einer Situation, die nicht geändert werden kann und die eher heitere Gelassenheit erfordert. Der Engel der Geduld möge auch uns beistehen, wenn wir etwas zu dulden haben, wenn es eine leidvolle Situation auszuhalten gibt. Konflikte in der Ehe, Probleme am Arbeitsplatz las­sen sich nicht immer oder immer schnell lösen. Auch da braucht es ein geduldiges Ausharren in einer schmerzhaften Situation, die man nicht schnell verändern kann, in der man nur hoffen kann, dass sich eine Lösung ergeben wird. Geduld heißt aber nicht, sich für immer mit dem Konflikt zu arrangieren oder faule Kompromisse zu schließen. In der Geduld steckt auch die Kraft, auf Veränderung und Verwandlung hinzuarbeiten. Aber in der Geduld hat auch die Zeit einen wichtigen Platz. Wir lassen uns und den andern Zeit, dass sich etwas wandeln kann. 

Geduld braucht es bei Krankheit. Auch sie lässt sich nicht sofort in den Griff bekommen. Die Fähigkeit, etwas auszuhalten, nimmt heute immer mehr ab. Geduldig aushalten, darunter bleiben, ausharren, das sind Tugenden, die heute kaum gefragt sind. Und doch hätten wir sie bitter nötig, um unser Leben zu meistern und die Probleme unserer Welt hoffnungsvoll zu bestehen. So wünsche ich Dir den Engel der Geduld, dass Du nicht gleich aufgibst, wenn Du vor schwierigen Situationen stehst, wenn etwas unlösbar erscheint. Der Engel der Geduld möge Dir die Kraft schenken, etwas durch­zutragen, und das Vertrauen, dass Verwandlung geschehen wird.