DER ENGEL DER FREIHEIT

Nach Freiheit sehnen wir uns alle. Denn es tut uns weh, wenn wir uns abhängig fühlen. Wenn andere Menschen uns bestimmen, wenn wir in ihrer Nähe nicht anders können, als ihre Erwartungen zu erfüllen, dann ärgert uns das. Es ist gegen unsere Würde. Oder wenn wir von unseren Emotionen oder Gewohnheiten beherrscht werden, fühlen wir uns nicht wohl. Wir haben heute zwar eine äußere politische Freiheit. Aber im Miteinander fühlen sich viele unfrei. Da fühlen sie sich in Sachzwänge eingebunden. Da werden sie von den Erwartungen der Gesellschaft bestimmt. Sie trauen sich nicht, auszubrechen und gegen den Strom zu schwimmen. Sie haben den Eindruck, dass andere über sie bestimmen. Da traut sich jemand nicht frei zu sagen, was er denkt. Er überlegt sich, was der andere von ihm erwartet, was der über ihn denken würde. Er ist nicht er selbst, sondern versucht, der zu sein, den die andern gerne haben möchten. Aber so kann ich nie Mensch werden, so entdecke ich nie, wer ich selber bin.

Das deutsche Wort Freiheit kommt von der indogermanischen Wurzel pral. Das heißt: schützen, schonen, gern haben, lieben. Wir sprechen ja auch heute noch von einem Freier. Die Germanen nannten den, den sie liebten und daher schützten, einen freien Menschen. Er konnte frei und vollberechtigt in der Gemeinschaft stehen. Er war frei, ungebunden, unabhängig, nicht beengt. Ich fühle mich frei, wenn ich mich geliebt weiß. Dann muss ich mich nicht nach den Erwartungen der andern richten. Dann darf ich sein, wie ich bin. Wenn ich mich von einem Menschen geliebt weiß, kann ich in seiner Nähe mich so geben, wie ich mich fühle. Dann muss ich nicht ständig Angst haben, was der andere von mir denken würde. Ich weiß, dass ich bejaht bin. Wenn ich mich wirklich im Grund meines Daseins geliebt weiß, dann bin ich frei von dem Zwang, die Erwartungen der andern zu erfüllen. Ich bin frei von dem Zwang, immer Erfolg haben zu müssen; immer etwas vorweisen zu müssen, den Maßstäben der Gesellschaft entsprechen zu müssen.

Die Griechen kennen drei Worte für Freiheit: Eleutheria ist die Freiheit, dort hinzugehen, wo ich will. Ich bin frei in meinem Handeln. Ich kann das tun, was ich für mich als richtig spüre. Ich bin nicht eingezwängt durch die Vorschriften und Erwartungen der andern. Parrhesia meint die Redefreiheit. Du denkst vielleicht, dass das nichts Besonderes ist. Du darfst in der Demokratie ja sagen, was Du denkst. Aber wie oft richtest Du Dich doch nach den andern. Ich kenne einen sehr begabten Menschen, der gute Zeugnisse hat. Aber er findet keine Arbeit, weil er sich vor jedem Vorstellungsgespräch tausendmal überlegt, was der Personalchef denken könnte, wenn er das sagt, und ob er meinen würde, er sei neurotisch, wenn er jene Worte verwenden würde. Er ist nicht frei in seinem Reden. Frei sind wir erst, wenn wir uns so zeigen können, wie wir sind, wenn wir unsere Wahrheit auch vor andern aussprechen können. Der dritte Begriff, die Autarkia, meint Selbstverfügung und Selbstbestimmung. Ich kann noch selber entscheiden, was ich will, was ich esse und wie viel, wann ich verzichte und faste. Dieses innere Gefühl der Freiheit, noch Herr über mich zu sein, gehört wesentlich zur Würde des Menschen. Viele werden heute getrieben von ihren Süchten. Da täte ihnen der Engel der Freiheit gut, der sie aufrichtet und frei über sich verfügen lässt.

Eine Frau hat sich in einen Mann verliebt. Aber der will nichts von ihr wissen. Obwohl sie weiß, dass die Beziehung keine Chance hat, dass sie sich dadurch nur selbst verletzt, kommt sie nicht los von ihm. Auch sie bräuchte den Engel der Freiheit, der ihr ihre Würde wieder schenkt, das Gespür, dass sie in sich wertvoll ist, dass sie es nicht nötig hat, diesem Mann nachzulaufen. Andere fühlen sich in der Ehe, in der Familie, in einer Gemeinschaft eingeengt und unfrei. Sie haben keinen Raum zum Atmen. Auch sie bräuchten den Engel der Freiheit, der ihnen die innere Freiheit schenkt, sich auch in der Enge noch frei zu fühlen. Die innere Freiheit sagt mir, dass über mein wahres Selbst keiner verfügen kann. Sie schenkt mir Unabhängigkeit auch in der Freundschaft. Ich definiere mich nicht vom andern her. Ich bin immer noch ich selbst. Solche Freiheit ist nötig, damit Freundschaft, damit Ehe gelingen kann. Wenn zwei aneinander kleben, wenn sie sich ständig vergewissern müssen, was der andere jetzt denkt, dann kann in solcher Enge keine reife Beziehung wachsen. Auch in jeder Bindung brauche ich trotzdem noch Freiheit. Ich binde mich in Freiheit. Und in der Bindung bin ich frei, gibt es in mir einen Raum, über den niemand verfügen kann. Ich wünsche Dir, dass der Engel der Freiheit Dir solche innere Freiheit schenkt, damit Du Dich wahrhaft als freier Mensch fühlen und aufrecht leben kannst.