DER ENGEL DER EHRFURCHT  

Das Wort Ehrfurcht verbindet die Furcht mit der Ehre. Hier ist mit Furcht nicht die Angst vor Men­schen oder vor gefährlichen Situationen gemeint, sondern die Scheu, die nicht zudringlich wird, sondern den gebührenden Abstand hält. Das Gefühl der Ehrfurcht entstammt dem religiösen Bereich. "Es ist die Empfindung des Heilig-Unnahbaren, das für die frühe Daseinserfahrung alles Hohe, Mächtige, Herrliche umgab“ (Romano Guardini). Der Ehrfürchtige nimmt nicht in Besitz, was er bewundert. Er tritt vielmehr scheu zurück. Er erweist dem Men­schen, der Schöpfung, dem Bestaunten die nötige Ehre. Er will nicht aufdringlich eindringen in das Geheimnis eines Menschen. Er lässt das Geheimnis stehen. Romano Guardini meint, alle wirkliche Kul­tur beginne damit, dass der Mensch zurücktritt, dass er der Person ihre Würde lässt und dem Werk seine Schönheit. Echte Kultur braucht die Ehrfurcht. Engel vermitteln in allen Religionen den Menschen das Gefühl von Ehrfurcht. Sie zeigen ihm, dass da etwas Jenseitiges in sein Leben tritt, etwas, das ihn unbedingt angeht, etwas, das ihn übersteigt, vor dem er nur staunend zurücktreten kann. 

In der Ehrfurcht verzichte ich darauf, alle Neuigkeiten von einem Menschen zu erfahren, selbst die intimsten Bereiche noch zu erforschen. Für den heiligen Benedikt heißt Ehrfurcht vor dem Menschen letztlich, an den guten Kern im andern zu glauben, im andern den göttlichen Funken, im andern Christus selbst zu sehen. Ich lege den andern nicht fest auf seine Fehler und Schwächen, sondern ich sehe tiefer. Ich erkenne hinter seiner manchmal wenig erbaulichen Fassade seine eigentliche Sehnsucht. Im Grunde seines Herzens sehnt sich jeder Mensch danach, gut zu sein. Ich leugne das Böse nicht, das ich Menschen tun sehe. Aber ich verurteile den Menschen nicht. Ich versuche, hinter die Kulissen des Bösen zu schau­en. Und da erkenne ich, dass keiner aus Lust das Böse tut, sondern immer aus Verzweiflung, wie Albert Görres, der Münchner Psychia­ter, einmal gesagt hat. 

Die Ehrfurcht hat mit Achtung zu tun. Ich achte den Menschen nicht wegen seiner Leistung, sondern weil er Mensch ist. Wenn sich Menschen geachtet fühlen, richten sie sich auf. Sie entdecken ihre göttliche Würde wieder. Mir ist heute noch in Erinnerung, wie ein argentinischer Freund von meinem Vater gesagt hat: "Bei dem fühlt man sich geachtet.“ Das war für ihn in der Fremde eine wichtige Erfahrung, dass er nicht als Ausländer abgestempelt wurde, sondern sich als Mensch geachtet fühlte. Die Ehrfurcht achtet die Grenzen, die der andere gewahrt wissen möchte. Sie achtet die Intimität des Menschen. Solche Engel der Ehrfurcht bräuchten wir heute in einer Zeit, in der man voller Sensationsgier gerade das veröffentlichen will, was das Allerpersönlichste ist. Die Ehrfurcht schafft eine Atmo­sphäre von Feingefühl und Lebensschutz, von Zartheit und Ach­tung, die uns gut tut. In ihr fühlen wir uns wahrhaft als Menschen mit einer unantastbaren Würde. 

Ehrfurcht hat es mit Größe zu tun. Heute besteht ja die Sucht, den vermeintlich Großen in den Schmutz zu ziehen. Der Minder­wertige kann es nicht aushalten, dass es echte menschliche Größe gibt. Also muss er die Schwächen ausspionieren, um sich selbst zu beweisen, dass es keine menschliche Größe geben kann, um sich in seiner Banalität zu rechtfertigen. In der Ehrfurcht lasse ich das Große gelten, freue mich daran. Und indem ich mich daran freue, bekom­me ich selbst an der Größe des Bestaunten Anteil. Ehrfurcht gibt es aber nicht nur vor dem Großen, sondern auch vor dem Kleinen, vor dem Wehrlosen, vor dem Verwundeten. Die Ehrfurcht erkennt die göttliche Würde, die gerade auch im entstellten Antlitz eines Gefol­terten aufleuchtet. Wer die Wehrlosigkeit eines Menschen ausnützt, ist schamlos. Er erniedrigt den Menschen. Die Ehrfurcht erhöht den Menschen. Sie gibt ihm den Raum, in dem er in Freiheit seine eige­ne Würde entdeckt und sich aufrichten kann. 

Wir bräuchten heute bei vielen Gelegenheiten Engel der Ehrfurcht, die das Klima der Sensationsgier und des Zynismus verwandeln in Achtung vor der Würde des Menschen. Wenn so ein Engel der Ehrfurcht auf eine Party käme, dann würde der Klatsch über die andern aufhören, dann würde eine Atmosphäre der Achtung entstehen, in der jeder er selbst sein darf, in der sich jeder geachtet weiß. Wenn so ein Engel der Ehrfurcht in die Diskussion eines Stadtparlamentes hereinschneien würde, dann würden die verletzenden Vorwürfe an die Vertreter der anderen Partei verstummen. Sie würden als unanständig entlarvt. Wenn so ein Engel der Ehr­furcht in eine Gemeinschaft eintreten würde, dann würde die Neu­gier verebben, in das Geheimnis jedes einzelnen eindringen zu wol­len. Dann würden wir nicht ständig versuchen, den andern zu ändern. Wir würden ihn erst einmal als Person wahrnehmen und ihn achten, so wie er ist. Erst in so einem Klima der Ehrfurcht und Achtung kann er sich ändern, ohne seine Selbstachtung aufgeben zu müssen. Weil er um seine Würde weiß, kann er sich ändern, kann er mehr in die Gestalt hineinwachsen, die seiner göttlichen Würde entspricht. 

Ich wünsche Dir dass Du neben vielen Engeln der Ehrfurcht leben darfst. Dann wird in Dir das Gespür für das tiefe Geheimnis, das in Dir ist, wachsen. Du wirst erfahren, was Menschsein heißt. Und Du wirst Freude haben an Deinem Menschsein. Und ich wünsche Dir, dass Du für andere zum Engel der Ehrfurcht werden darfst und dass Du Deinen Nächsten mit den Augen des Engels sehen lernst. Dann wirst Du für andere einen Raum eröffnen, in dem sie ganz sie selbst sein dürfen.