DER ENGEL DES BEWAHRENS

Das deutsche Wort bewahren kommt von dem althochdeutschen wara und bedeutet "Aufmerksamkeit, Acht, Obhut, Aufsicht". Es meint, dass wir aufmerksam und behutsam umgehen mit allem, was wir erleben, was wir hören, was wir sehen und erkennen. Gerade in unserer flüchtigen Zeit brauchen wir den Engel des Bewahrens, nicht um uns in der Vergangenheit festzumachen, sondern um den Schatz des Erlebten nicht in der Hektik des Lebens zu verlieren. In unserer schnelllebigen Zeit verlieren wir schon bald aus dem Auge, was wir gesehen haben. Wir gehen von einem Eindruck zum andern über. Aber so kann in uns nichts wachsen. Und wir fühlen uns zerrissen. Wir können nicht auskosten, was wir erlebt haben. Viele Menschen sind heute unfähig, intensiv in der Gegenwart zu leben, das zu erspüren, was sie erleben. So brauchen sie immer größere Anstöße von außen, um sich überhaupt zu spüren.

Die frühen Mönche haben eine Methode entwickelt, wie sie ganz in der Gegenwart leben konnten. Es war die Methode der Meditation, oder wie sie es auch nannten, der ruminatio. ruminari heißt wiederkäuen. Sie nahmen also die Worte der Schrift in ihren Mund und kauten sie immer wieder. Sie wiederholten sie in ihrem Herzen, betrachteten sie, nahmen sie immer wieder neu in ihren Blick, schauten von allen Seiten auf dieses Wort. So konnte ein einziges Wort der Schrift sie tagelang beschäftigen. Und das Wort wurde so in ihnen Fleisch. Es hat sie verwandelt. Es hat ihnen Halt gegeben in der Unruhe ihres Geistes und im Lärm der Welt. Und es hat sie dazu befähigt, ganz im Augenblick zu sein. Es gab für sie nichts Wichtigeres, als gegenwärtig vor dem gegenwärtigen Gott zu sein.

Es gibt einen schönen Väterspruch, der unsern Umgang mit dem Wort vergleicht mit dem Verhalten des Pferdes und des Kamels. Das Kamel begnügt sich mit wenig Nahrung, die es immer wiederkäut. Das Pferd braucht dagegen viel zum Fressen. Es wird nie satt. Und der Altvater Antonios mahnt uns, nicht wie die Pferde, sondern wie die Kamele mit dem Wort Gottes umzugehen. Wir sollen nicht unersättlich immer wieder Neues in uns hineinstopfen, sondern das Wenige, das wir gehört und gelesen haben, in unserem Herzen bewahren. Dann kann es uns verwandeln. Dann können wir davon leben. Dietrich Bonhoeffer schreibt im Gefängnis in Tegel, wie er sich Erinnerungen wachruft und wie sie ihm in der Einsamkeit der Gefängniszelle Licht und Trost schenken. Er konnte Begegnungen, er konnte Erfahrungen bei einem Gottesdienst, bei einem Konzert, in seinem Herzen bewahren und davon leben, mitten in der Kälte der Zeit. Seine Fähigkeit, heilsame Worte und Erfahrungen zu bewahren, gab eine Antwort auf die klagende Frage Hölderlins: "Weh mir, wo nehm' ich, wenn es Winter ist, die Blumen, und wo den Sonnenschein?" Er bewahrte die Blumen seiner Gotteserfahrung auf, so dass sie auch in der unfruchtbaren Wüste brutaler Nazischergen blühen konnten. Und er bewahrte den Sonnenschein in seinem Herzen, so dass die Kälte verschlossener Menschen ihm nicht bedrohlich werden konnte.

Der Engel des Bewahrens möchte Dich nicht in eine konservative Haltung führen, nicht in die Flucht vor der Gegenwart. Er möchte Dich vielmehr anleiten, das Kostbare, das Du erlebt hast, zu schützen und zu behüten, es wie einen kostbaren Schatz aufzubewahren, dass Du ihn immer wieder bewundern kannst. Das gibt Deinem Leben Tiefe und Reichtum. Du kannst auch Situationen bestehen, die nicht so rosig aussehen. Du kannst auch durch Wüstenstrecken hindurchgehen, ohne zu verdursten. Wer nicht bewahren kann, der braucht immer neuen Trost, neue Nahrung, neue Erlebnisse, um sich überhaupt am Leben zu spüren. Die Fähigkeit zu bewahren hält mich auch dort lebendig, wo ich vom Leben abgeschnitten bin, in Situationen des Scheiterns, in Situationen der Erstarrung. Ich wünsche Dir, dass Dich der Engel des Bewahrens dazu befähigt, in jedem Augenblick intensiv zu leben. Er möchte Dir die Fähigkeit von Frederik schenken, von dem eine Kindergeschichte erzählt, dass er im Sommer Sonnenstrahlen und die Buntheit der Blumen in seinem Herzen sammelte, um im Winter davon leben zu können.