DER ENGEL DER BARMHERZIGKEIT

Barmherzig ist, wer ein Herz hat für die Armen, für die Verwaisten und Unglücklichen, für die Einsamen und Bemitleidenswerten. Aber bevor er ein Herz für die Armen haben kann, muss er zuerst ein Herz für das Arme und Unglückliche in sich selbst haben. Wir müssen zuerst lernen, mit uns selbst barmherzig umzugehen. Das deutsche Wort Barmherzigkeit ist eine wortgetreue Übersetzung des lateinischen misericordia, ein Herz für die Elenden und Unglücklichen haben. Wenn die Juden von Barmherzigkeit sprechen, denken sie an den Mutterschoß. Der barmherzige Gott trägt uns voller Liebe in seinem Mutterschoß. Wie eine Mutter kann er warten, bis wir mehr und mehr in das Bild hineinwachsen, das Er sich von uns gemacht hat. Wenn Jesus sich der Menschen erbarmt, dann benutzt die Bibel oft das griechische Wort splanchnizomai. Es bedeutet „in den Eingeweiden ergriffen werden“. Die Eingeweide waren für die Griechen der Ort der verwundbaren Gefühle. Barmherzig sein heißt dann, den andern dort eintreten lassen, wo ich selbst verwundbar bin. Und noch ein anderes Wort kennt die Bibel für Barmherzigkeit: eleos, das Zärtlichkeit, Mitgefühl, Mitleid bedeutet.

Barmherzig mit sich selbst umgehen, heißt also zärtlich zu sich sein, gut mit sich umgehen, nicht gegen sich wüten, sich nicht mit Vorsätzen überfordern, sondern zunächst einmal: ein Herz haben für mich, so wie ich geworden bin, ein Herz haben für das Schwache und Verwaiste in mir. Wir gehen oft sehr unbarmherzig mit uns um. Wir verurteilen uns, wenn wir einen Fehler machen. Wir beschimpfen uns, wenn etwas einmal schief läuft. Wir haben in uns einen unbarmherzigen Richter, ein hartherziges Über-Ich, das all unsere Gedanken und Gefühle beurteilt, das uns bestraft, wenn wir seinen Forderungen nicht entsprechen. Gegen dieses unbarmherzige Über-Ich kommen wir oft nicht an. Da brauchen wir die Worte Jesu, der uns den barmherzigen Vater vor Augen führt, der den verlorenen Sohn nicht verstößt, sondern ein Fest mit ihm feiert, weil er, der verloren war, wieder gefunden wurde, weil er, der tot war, wieder zum Leben erweckt wurde. Da brauchen wir einen Engel der Barmherzigkeit, der den inneren Richter in uns entmachtet und unser Herz mit erbarmender Liebe erfüllt. Es genügt nicht, sich nur mit dem Verstand und Willen Barmherzigkeit vorzunehmen. In unserem Unbewussten nistet die Unbarmherzigkeit eines harten Über-Ichs. Um es zu überwinden, bedarf es des Engels der Barmherzigkeit in uns.

Und wenn wir mit uns barmherzig umgehen, dann können wir auch die Barmherzigkeit andern gegenüber lernen. Ich kenne viele Menschen, die sich barmherzig für kranke und einsame Menschen einsetzen, die aber ganz und gar unbarmherzig mit sich selbst umgehen. Für jeden andern Menschen haben sie ein Herz, nur für sie selbst ist kein Platz in ihrem Herzen. Da zwingen sie sich, alle eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, nur um für die andern dazusein. Doch solche Unbarmherzigkeit sich selbst gegenüber wird auch die Hilfe andern gegenüber verfälschen. Da wird sich in meine Liebe ein Besitzanspruch einschleichen. Da bin ich dann ärgerlich, wenn meine übergroße Liebe nicht honoriert wird. Damit ich den andern von Herzen liebe, damit ich wirklich ein Herz für ihn oder sie haben kann, muss ich zuerst selbst in Berührung kommen mit meinem Herzen, muss ich mein Herz zunächst all dem Armen und Unglücklichen in mir zuwenden. Dann kann ich barmherzig sein. Dann werde ich andere nicht verurteilen, sondern ich werde sie gerade mit all dem Unglücklichen, Zerrissenen, Elenden, Unansehnlichen in mein Herz aufnehmen. Dann wird meine Hilfe ihnen kein schlechtes Gewissen vermitteln. Sie werden vielmehr Platz und Heimat finden in meinem Herzen. Ich wünsche Dir, dass Dich der Engel der Barmherzigkeit lehrt, Dein Herz zu öffnen für das Arme in Dir und in den Menschen. Dein Herz wird dann wie ein Mutterschoß sein, in dem Du selbst und andere heranwachsen können. In Deiner Nähe werden dann auch andere mit ihrem Herzen in Berührung kommen und aufhören, sich unbarmherzig zu verurteilen. "Wer ein Herz hat, kann gerettet werden“, sagt ein Mönchsvater aus dem 4. Jahrhundert. Wenn Du ein Herz hast für das Arme und Schwache, dann wird Dein Leben gelingen. Dann wird sich der Engel in Dir freuen über die Barmherzigkeit, die Dein Herz bewohnt.