DER ENGEL DER AUSGELASSENHEIT

Das Wort Ausgelassenheit ist ein Wort, das mich persönlich eher etwas befremdet. Vielleicht des­halb, weil ich selbst kein ausgelassener, sondern eher ein selbstbeherrschter Mensch bin. Aber vielleicht kannst Du genauso wie ich ein wenig Ausgelassenheit brauchen. Ausgelassen meint, dass ich meine Rolle loslasse, die ich sonst spiele, dass ich meine Mas­ke fallen lasse, dass ich meine innere Lebendigkeit auch nach außen lebe. Wir nennen einen ausgelassenen Menschen über­mütig. Er geht über den normalen Mut hinaus. Mut meint im Mit­telhochdeutschen Streben, Trachten, Gewohnheit, Sitte. Er lebt also nicht nur nach der allgemeinen Sitte und Norm, sondern er lebt aus sich heraus, aus dem eigenen Streben heraus. Er hat ein Herz, das überquillt vor Freude und Lebendigkeit.

Der Engel der Ausgelassenheit möchte Dir den Mut schenken, der eigenen Lebendigkeit zu trauen. Du musst nicht immer danach sehen, was die andern von Dir denken, ob das, was Du tust, noch der Sitte entspricht, ob es den Erwartungen der andern gerecht wird. Du darfst all die Erwartungen von außen auslassen. Du darfst Dir und Deinem Herzen, Deinem Mut, trauen. Leben will sich aus­drücken. Und Leben ist nicht immer nur Ebenmaß. Es ist auch überschäumend, übermütig, es ist kindlich, spontan. Du kannst Dir nicht einfach vornehmen, nun spontan zu sein. Denn das wäre eine paradoxe Lösung. Entweder Du bist spontan oder nicht. Aber wenn Du spontan sein willst, bist Du es schon nicht mehr.

Vielleicht bist Du nur diszipliniert. Dann könntest Du den Engel der Ausgelassenheit bitten, Dich in die Freiheit zu führen. Es braucht Abstand von uns selbst, wenn wir uns erlauben, einfach einmal das zu leben, was in uns ist. Zu oft überlegen wir, was die andern dann denken würden, welchen Eindruck wir auf die andern machten, wenn wir uns so und so gäben. Ausgelassenheit ist die Freiheit von allem Nachsinnen über die Erwartungen der andern. Wir lassen die Erwartungen der andern beiseite und vertrauen dem Leben, das in uns ist. Wir lassen die Rolle aus, die wir sonst spielen. Wir lassen die Maske los, die uns oft genug unsere innere Leben­digkeit verstellt.

Ausgelassenheit meint sprühende Lebendigkeit. Auch die kön­nen wir nicht einfach machen. Manchmal fühlen wir uns lebendig. Da strömt alles in uns. Da sprudeln die Worte nur so aus uns her­aus. Da können wir eine ganze Gesellschaft anstecken. Da haben wir ganz verrückte Einfälle. Von solcher Ausgelassenheit springt der Funke meistens auf die andern über. Und es geht Freiheit davon aus. Die andern fühlen sich auf einmal auch frei genug, den eigenen Intuitionen zu trauen, dem Kind in sich zu trauen, das spielen möchte, ohne nach dem Zweck und Nutzen zu fragen. Das Kind ist in Berührung mit sich selbst. Es lebt aus sich heraus und nicht aus den Erwartungen seiner Umwelt. Danach sehnen wir uns als Erwachsene wieder, einfach nur zu leben, ohne das Leben so kom­pliziert zu machen durch unsere vielen Überlegungen, die dauernd abwägen, was wir dürfen und sollen und was andere von uns wol­len. Ich wünsche Dir, dass Dich der Engel der Ausgelassenheit in diese Freiheit des Kindes hineinführt und dass Du mit allen Deinen Sinnen das Leben und die Freiheit genießen kannst.