DER ENGEL DES AUFBRUCHS

Es ist eine Ursehnsucht im Menschen, sich einmal gemütlich niederzulassen und sich für immer einzurichten, einmal geborgen und daheim zu sein. Wo es dem Menschen gefällt, dort möchte er seine Zelte aufschlagen und immer dort bleiben. Aber zugleich weiß er auch, dass er sich hier in dieser Welt nicht für immer einrichten kann. Er muss sich ständig von neuem auf den Weg machen. Er muss immer wieder aufbrechen. Er muss die Lager, die er aufgebaut und in denen er sich wohnlich eingerichtet hat, abbrechen, um auf seinem Weg weiterzukommen. Aufbruch setzt einen Abbruch voraus. Altes muss abgebrochen werden. Es kann nicht immer so weiter gehen. Ich kann nicht immer dort bleiben, wo ich gerade bin.

Solange wir auf dem Weg sind, müssen wir immer wieder unsere Zelte abbrechen, um in neues Land aufzubrechen. Jeder Aufbruch macht zuerst einmal Angst. Denn Altes, Vertrautes muss abgebrochen werden. Und während ich abbreche, weiß ich noch nicht, was auf mich zukommt. Das Unbekannte erzeugt in mir ein Gefühl von Angst. Zugleich steckt im Aufbruch eine Verheißung, die Verheißung von etwas Neuem, nie Dagewesenem, nie Gesehenem. Wer nicht immer wieder aufbricht, dessen Leben erstarrt. Was sich nicht wandelt, wird alt und stickig. Neue Lebensmöglichkeiten wollen in uns aufbrechen. Sie können es aber nur, wenn alte Muster abgebrochen werden.

Wir wollen uns dort niederlassen, wo uns etwas anspricht und im Herzen berührt. Die Jünger auf dem Berg Tabor möchten am liebsten drei Hütten bauen, um sich für immer in der beglückenden Erfahrung der Verklärung niederzulassen. Aber Jesus geht darauf nicht ein. Schon im nächsten Augenblick wird das Taborlicht von einer dunklen Wolke abgelöst. Sie können die Erfahrung nicht festhalten, sie müssen wieder aufbrechen, sich auf den Weg ins Tal machen. Dort werden sie die Klarheit des Berges vermissen. Jede tiefe religiöse Erfahrung möchte uns dazu verführen, uns für immer einzurichten, uns an etwas festzuklammern, was wir nicht festhalten können.

Gott lässt sich nicht festhalten. Er ist wesentlich der Gott des Exodus, des Aufbruchs, der Gott, der uns immer wieder ermahnt, aufzubrechen. Zu Mose spricht Er: "Was schreist du zu mir? Sag den Israeliten, sie sollen aufbrechen" (Ex 14,15). Die Israeliten haben Angst vor dem Aufbruch. Sie fühlen sich in Ägypten zwar unterdrückt und unfrei. Aber sie haben sich arrangiert mit der Fremdherrschaft. Zumindest waren ihre Fleischtöpfe voll. Sie möchten ausziehen, aber zugleich haben sie Angst vor dem Aufbruch. In dieser Ambivalenz erfahren wir uns immer wieder. Wir sind nicht zufrieden mit dem, was wir gerade leben. Aber zugleich haben wir Angst, aufzubrechen, das Vertraute abzubrechen und einen inneren und äußeren Umbruch zu wagen. Aber das Leben werden wir nur erfahren, wenn wir bereit sind, uns immer wieder auf den Weg zu machen. Da brauchen wir wie die Israeliten einen Engel, der uns Mut macht zum Aufbruch, der seinen Stab über das Rote Meer unserer Angst hält, damit wir vertrauensvoll und sicher durch die Fluten unseres Lebens schreiten können.

Heute hat es der Engel des Aufbruchs besonders schwer. Die Grundstimmung unserer Zeit ist nicht die des Aufbruchs wie etwa in den sechziger Jahren, als durch das Konzil zuerst in der Kirche und dann durch die Studentenrevolte in der Gesellschaft eine starke Aufbruchsstimmung herrschte. Heute ist es eher die Grundstimmung der Resignation, des Selbstmitleids, der Depressivität, der Wehleidigkeit. Man bedauert sich lieber, dass alles so schwierig sei und dass man halt nichts machen könne. So haben wir gerade heute den Engel des Aufbruchs nötig, der uns Hoffnung schenkt für unsere Zeit, der uns aufbrechen lässt zu neuen Ufern, der uns den Aufbruch wagen lässt, damit neue Möglichkeiten des Miteinanders, ein neuer Umgang mit der Schöpfung und neue Phantasie in der Politik und Wirtschaft aufblühen können.

Und dazu gehört auch, dass Du selber fest gefügte Vorstellungen und erstarrte Bilder aufbrichst. Das Aufsprengen von inneren Blockaden, die Öffnung von Verschlossenheit, das Aufgeben von alten Gewohnheiten und Besitzständen: Das alles eröffnet uns die Möglichkeit, zu neuen Lebensweisen und Lebensabschnitten aufzubrechen. Oftmals wirst Du zögern, weil Du nicht weißt, wohin der Weg Dich führen wird. Dann mag wohl der Engel des Aufbruchs Dir zur Seite stehen und Dir Mut für Deinen eigenen Weg zusprechen: "Denn Engel wohnen nebenan, Wohin wir immer ziehen -" (Emily Dickinson).